Hinter der Maske des Mythos

Elena Pallantza (Foto: privat; Buchcover © 2017 Verlag Reinecke & Voß, Leipzig)
Elena Pallantza (Foto: privat; Buchcover © 2017 Verlag Reinecke & Voß, Leipzig)

Alte griechische Mythen, neu gedichtet: Die Übersetzerin Elena Pallantza spricht mit unique über Jannis Ritsos‘ Lang-Gedicht Helena und die Bedeutung des Gedichts für Griechen und Deutsche.

von Lara & Frank

Nachts, wenn die Mägde fort sind und das Haus zu leben scheint, da kommen die Toten. Sie öffnen die Truhe, lassen den Wasserhahn tropfen und schreiben an die Fensterscheibe. Doch es sind nicht die Geister, die das Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit in jeden Winkel tragen: Der eigentliche Spuk ist die alles relativierende Einsamkeit des Alters. Und dieser verschont niemanden – nicht einmal die größte Muse der klassischen Antike. Durch die Wahl der Protagonistin wird Jannis Ritsos‘ (1909-1990) Langgedicht Helena vom Schwanengesang einer alten Frau zum allgemeingültigen Symbol für die Vergänglichkeit: Die einst schönste Frau der Welt liegt, uralt und hässlich, im Sterben, und mit ihr hat die Pracht der ganzen Welt an Bedeutung verloren. Was bleibt sind Augenblicke: Schmetterlinge und Oleander, das Geräusch von Papier, das die Straße entlang weht – und allem voran ihr Gang auf den Mauern Trojas, der zum Inbegriff der Freiheit umgedichtet wird. Ritsos‘ Helena ist zwischen zwei Zeiten gefangen: Gedankenverloren träumt sie von ihren Erinnerungen an den trojanischen Krieg, während vor dem Haus die Schaufenster der Läden leuchten und ein altes Fahrrad an die Wand gelehnt rostet. Vergangenheit und Gegenwart verlieren an Bedeutung in dem Haus, das von der Zeit vergessen zu sein scheint.
Viele von Ritsos‘ Gedichten sind moderne Adaptionen antiker Motive: Neben Helena dienten unter anderem auch Iphigenie und Agamemnon als Vorlagen. Berühmt und bekannt wurde er durch die Vertonung seiner Gedichte. Als Linkssozialist wurden seine Bücher verboten und verbrannt. Er verbrachte mehrfach Zeit im Gefangenenlager, kam aufgrund internationaler Proteste frei, wurde wieder verhaftet: Helena schrieb er 1970 unter Hausarrest der griechischen Militärdiktatur auf Samos.
Im Gefühl des Gefangenseins im eigenen Haus, das sich durch Helena zieht, spiegelt sich daher vielleicht auch Ritsos eigenes Empfinden. Gleichzeitig werden die abblätternden Fassaden zum Sinnbild des eigenen verfallenden Körpers, der Helena von der Welt abschottet. Am Ende bleiben ihr nicht einmal mehr die Geister. Auch der Besucher aus ihrer Vergangenheit, der anonyme Adressat von Helenas Monolog, spürt diese Endgültigkeit, fürchtet selbst, im Haus gefangen zu werden. Als er geht, stirbt Helena allein in ihrer Kammer. Und so verlässt mit den Toten auch das Leben das Haus und Helena wird zur Elegie – auf verlorene Schönheit und auf die Momente, die das einzige sind, was besteht.

Wir sprachen mit der Übersetzerin des Werkes, Elena Pallantza:

unique: Frau Pallantza, wie sind Sie dazu gekommen, Jannis Ritsos zu übersetzen?
Pallantza: Die Idee entstand vor einigen Jahren, als ich an der Universität Bonn ein Seminar über Ritsos‘ Monologe aus der Vierten Dimension hielt. Ich war erstaunt, wie wenige davon ins Deutsche übertragen wurden, obwohl sie als zentral für sein Werk gelten. Das liegt möglicherweise daran, dass diese introspektive Lyrik, noch dazu mit einer mythologischen Thematik, auf den ersten Blick so wenig politisch erscheint. Ritsos ist im deutschsprachigen Raum vor allem als Dichter des linken Widerstands bekannt – bezeichnenderweise wurde er überwiegend in der DDR übersetzt. Mit der Übersetzung von Helena wollte ich unter anderem dazu beitragen, ein differenzierteres Ritsos-Bild zu vermitteln.

Wie könnte man das Lang-Gedicht Helena innerhalb der modernen griechischen Lyrik einordnen?
Ritsos zählt mit den Nobelpreisträgern Seferis und Elytis zu den bedeutendsten griechischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Sie gehören zu einer Generation des Aufbruchs, welche die Symbole des modernen Griechentums neu erfindet: Mythos, Tradition, griechische Landschaft und Geschichte sind die Materialien dieser Lyrik. Neben dem kryptischen, pessimistischen Existentialismus von Seferis und der lichtdurchfluteten Sprachschöpfung von Elytis zeichnet Ritsos eine volksnahe, zugängliche Dichtung aus. Auch wenn er mit den Jahren, wie im Fall von Helena, zunehmend philosophischer wird, bleibt er diesem Prinzip treu.

Ein Dichter, der fast das ganze 20. Jahrhundert – samt Faschismus, Bürgerkrieg, Militärdiktatur – miterlebt hat: Denken Sie, man kann in seiner Biographie und seinem idealistischen Kampf die Wesenszüge dieser Epoche ablesen?
Die griechische Geschichte des letzten Jahrhunderts ist die eines entzweiten Landes und Ritsos´ Gedichte sind die Zeugenaussagen eines direkt Beteiligten – mit allen Illusionen und Desillusionen, die gerade die Zugehörigkeit zur Linken mit sich brachte. Er sah in der engagierten Kunst die für ihn einzige moralisch gerechtfertigte und wirksame künstlerische Haltung. Dafür wurde er fast ein Leben lang verfolgt, verbannt, gefoltert, zensiert, ganz zu schweigen von den innerparteilichen Zwängen und Konflikten, aber auch international gefeiert und anerkannt. Und doch erklingt immer wieder in seiner Dichtung, in Helena etwa hinter der Maske des Mythos, ein Lied auf eine ganz persönliche, unbegrenzte Freiheit und Unabhängigkeit.

Was bedeutet Ritsos Ihnen und was – denken Sie – bedeutet er den Griechen?
Ritsos schenkte uns Griechen das wunderschöne Wort „Romiosyne“, um das Griechisch-Sein als kulturelle Identität, Zugehörigkeitsgefühl und Freiheitsliebe zugleich, aber ohne nationalistischen Beigeschmack zu erfassen. Seine Dichtung wurde von Mikis Theodorakis vertont, dadurch konnte sie wirklich jeden erreichen; es wurde also ein Platz für Dichtung im Lebensgefühl eines Volkes geschaffen. Und dann ist diese unerschöpfliche Kraft in ihm, durch Kämpfen und Schreiben in Würde den Tod zu vertreiben.

Im Nachwort des Gedichtbandes schreiben Sie: „Eine überzeitliche Auffassung von Dichtung und historischem Bewusstsein wird hier offenbar.“ Wie ist das gemeint?
In seinem Umgang mit dem antiken Mythos lässt Ritsos ein gegenseitiges Ineinanderfließen von Einst und Jetzt zu. Die antike Vergangenheit rückt dadurch näher, wird in heutige Maßstäbe überführt. Und umgekehrt: Die in den Mythos eingetauchte Gegenwart, das historisch Verankerte, gewinnt eine zeitlose Dimension. Wir haben es mit einer spezifischen Perzeption von Zeit, Geschichte und Tradition zu tun, mit einem Bewusstsein, dass alles Menschliche eine simultane Ordnung konstituiert. T.S. Eliot nannte es so unübertrefflich: „the historical sense“.

Planen Sie weitere Übersetzungen von Ritsos? Was kann speziell die deutsche Leserschaft aus seinem Schreiben erfahren?
Die Strahlkraft eines Textes, der auch nach 45 Jahren immer wieder neue Bilder im Kopf entstehen lässt. Wo Alt und Neu, Erhabenes und Alltägliches so ausgewogen zur Sprache kommen und wo das leiseste Flüstern einen Widerstandsakt darstellt. Leser werden unendlich viele Bezüge bis in die Gegenwart hinein herstellen können. Wir arbeiten zurzeit an einem weiteren Monolog aus der Vierten Dimension. Die Übersetzungen sind übrigens Ergebnis einer kollektiven Arbeit – das würde, glaube ich, auch Ritsos gefallen.

Frau Pallantza, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank.

Elena Pallantza wurde in Athen geboren, hat griechische Philologie studiert und unterrichtet Neugriechische Sprache und Kultur an der Universität Bonn. Sie ist Übersetzerin und schreibt Kurzgeschichten in griechischer Sprache.
Jannis Ritsos‘ Lang-Gedicht Helena, aus dem Griechischen von der Gruppe LEXIS unter der Leitung von Elena Pallantza, ist erschienen beim Verlag Reinecke & Voß (2017).


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