Der Eigen-Kulturschock nach Martin Woesler

Martin Woesler ist Kulturwissenschaftler, Sinologe und Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Hochschule für Angewandte Sprachen in München. Er hat die Theorie des Kulturschocks um das Phänomen des Eigen-Kulturschocks erweitert.

von jutzi

Nach Woesler stellt der Eigen-Kulturschock (Reverse Cultural Shock) einen schockartigen bis krisenhaften Gefühlszustand dar, in den eine Person fallen kann, wenn sie nach einem längeren Aufenthalt in einer fremden Kultur wieder in die eigene zurückkehrt. Der Mensch strukturiert seine Umwelt durch Wertungen und  Emotionen, die wiederum auf seine Perzeption rückwirken. Vertraute Dinge werden differenzierter, unbekannte Dinge – so auch Fremdkulturen – anfänglich mittels grober, teils zu pauschaler (Vor-)Urteile strukturiert. „Der temporäre Aufenthalt in der Fremdkultur führt durch den Prozess von Euphorie und Krise zur Anpassung durch eine Differenzierung der Strukturierung. Man beginnt, sich in der Fremdkultur erfahrener und vertrauter zu fühlen, ohne zugleich die Erfahrung, Vertrautheit und das Sicherheitsgefühl in der Eigenkultur in Frage zu stellen.“, so Woesler. Der Mensch idealisiere vielmehr sein Bild, um einen Vergleichsmaßstab für die Bewältigung des Lebens in der Fremdkultur zu haben.

woesler

Der Eigen-Kulturschock als ein punktueller Schockzustand wird i.d.R. ausgelöst durch eine plötzliche Erkenntnis oder Enttäuschungssituation. In einer solchen Situation offenbart sich, dass sich das in der Zeit des Fremdkultur-Aufenthaltes idealisierte, projizierte Bild von der real erlebten Wirklichkeit der Eigenkultur stark unterscheidet. „Diese punktuelle Erfahrung kann sich zu einer länger andauernden Krise ausweiten, vor allem, wenn sie nicht durch eine Analyse oder Gespräche verarbeitet wird. Der Eigenkulturschock kann so zu Depressionen, Orientierungslosigkeit, Angst, aber auch zu Einsamkeit und Fernweh führen. Es kommt vor, dass er erst im Laufe der Zeit als eine Krise erkannt wird, wenn er sich z.B. in Symptomen wie Rechtfertigungssucht, übertriebenem Sauberkeitsempfinden und Antriebslosigkeit äußert“,  erklärt Woesler. Der Eigen-Kulturschock kommt in seiner Bedeutung dem „klassischen“ Kulturschock in der Fremdkultur nahe – genauso, wie es eben nicht nur Heimweh, sondern auch Fernweh gibt. Der Schock fällt bei jedem Menschen unterschiedlich intensiv und unterschiedlich lang aus. Abhängig ist dies vorrangig von der soziokulturellen Erziehung, die man erfahren hat, vor allem auf der Ebene der Empathie. Wichtig sind der persönliche Toleranzgrad, die Neugier auf die Fremdkultur sowie das Vermögen, Unterschiede und Ähnlichkeiten rational zu verarbeiten und angemessene Handlungsstrategien zu entwickeln.

Mehr zum Eigenkulturschock: Martin Woesler „A new model of cross-cultural communication” (2. Aufl., Berlin 2009).


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Kommentare

3 Antworten zu „Der Eigen-Kulturschock nach Martin Woesler“

  1. […] Hauch von Globalität in ihre triste geordnete Welt zu bringen. Klingt nach Pensionsschock; heißt Eigenkulturschock. Manche erholen sich nach Monaten (ich), manche gar nie (kenn ich […]

  2. […] Der Eigen-Kulturschock nach Martin Woesler | unique-online.de. Share this:TwitterFacebookGefällt mir:LikeSei der Erste, dem dieser post gefällt. […]

  3. Avatar von Elmar Kruithoff

    Ich fände es spannend zu hören, welche Art von inneren Prozessen – neben interkulturellen Trainings – zu mehr Toleranz, Einfühlungsvermögen, Flexibilität und Interesse trotz Differenzen führt. Ja, aus meiner Erfahrung es geht um entlastende Gespräche und auch um Analysen. Andererseits halte ich Heimweh und Fernweh auch für Ressourcen, um die darin enthaltenen, eigenen Werte und Wünsche zu klären.

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