Es war einmal… Der Mensch und die Natur

Das Anthropozän ist keine feste „Realität“, sondern in erster Linie ein Narrativ, das zur Diskussion und Debatte einlädt. Dabei drohen die Grenzen zwischen Wissenschaft, Publizistik und PR manchmal zu verschwimmen.

von Lara

Es ist ein Einstieg, wie man ihn sich als Journalist wünscht: im symbolhaften Jahr 2000 bringt ein Nobelpreisträger durch ein kleines, authentisches Aufblitzen seiner Menschlichkeit ein ganzes Weltbild ins Wanken. Dass die Anekdote, wie Paul Crutzen auf einer Konferenz die Geduld verloren, den Redner in seinem Vortrag über das Holozän unterbrochen und spontan das Anthropozän ausgerufen haben soll, bis heute in allen Zeitungen referiert wird, ist kein Wunder. Schließlich wartet sie mit dem Stoff auf, aus dem große Geschichten gemacht sind: ein Konflikt, bei dem nicht weniger als das Fortbestehen der Menschheit auf dem Spiel steht und ein Protagonist, der nach der Mitentdeckung des Ozonloches nun schon das zweite Mal die Welt zu retten versucht. Dabei könnte die Erzählung vom Anthropozän ebenso gut mit jemand anderem beginnen: Mit dem Biologen Eugene Stoermer zum Beispiel, der den Begriff schon zuvor mehrfach verwendet hatte, oder dem Journalisten Andrew Revkin, dessen „Anthrozän“ acht Jahre vor Crutzen um zwei Buchstaben am Ruhm vorbeigerutscht war. „All die hätte man als Begründer nehmen können“, meint Christian Hoiß, Mitarbeiter der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung der LMU München, „aber die passen weniger gut für diese Prophetenrolle“.

Natur als Menschenwerk
Wenn er von der Konferenz spricht, verwendet er die Worte „Gründungsmythos“ und „Heureka-Narrativ“. Die Entscheidung der Internationalen Stratigraphischen Kommission, ob das Anthropozän zum offiziellen geologischen Erdzeitalter erklärt werden soll, bezeichnet er als „Höhepunkt“ einer Erzählung, die die öffentliche Anthropozän-Debatte begleitet.
Es war einmal, so erzählt die verbreitetste Variante dieser Geschichte, eine vom Menschen unbeeinflusste Welt. In dieser Welt, auch Natur genannt, lebte der Mensch. Alles was der Mensch tat und schuf, war künstlich und gehörte nicht zur Natur, und so war er Teil von ihr, aber konnte sie nicht verändern. Doch der Mensch begann zu wachsen. Erst langsam, Erfindung für Erfindung, dann immer schneller, bis er plötzlich in einer „großen Beschleunigung“ exponentiell über sich und die Erde hinauswuchs und, völlig unbemerkt, geologische Maßstäbe erreichte. Und plötzlich war die Natur zum Menschenwerk geworden. Der Mensch aber behandelte die Natur, über die er so große Macht hatte, sorglos wie seine eigene künstliche Welt, und als er sich, aufgeschreckt durch den Warnruf weitsichtiger Wissenschaftler, auf der Schwelle eines neuen Jahrtausends endlich der Konsequenzen seines Handelns bewusst wurde, war es schon beinahe zu spät.
Viele Aussagen in diesem „naturalistischen Narrativ“, wie der Wissenschaftshistoriker Christophe Bonneuil das den Anthropozän-Diskurs dominierende Narrativ bezeichnet, sind nicht ganz unstrittig: Historische Forschung belegt, dass Bewusstsein für den Umgang mit der Erde keinesfalls eine Erfindung der letzten Jahrzehnte ist, sondern das Thema Nachhaltigkeit schon seit der Nachkriegszeit, ja sogar der Zeit des Imperialismus diskutiert wird. Der verallgemeinerte Akteur „Menschheit“, der die Kluft zwischen Industriestaaten und ihren Leidtragenden marginalisiert, ist einer der zentralen Kritikpunkte am Anthropozän. Aber um Fakten geht es auch nicht, jedenfalls nicht nur. Wissenschaft erzählt, um die Fakten kulturell und emotional zu kontextualisieren und sie so aus dem formalen, innerwissenschaftlichen System in die Gesellschaft zu tragen.

Gutes Anthropozän
„Wirklichkeitserzählungen“, wie nicht-literarische Narrative manchmal genannt werden, erfüllen drei Zwecke: während im Zentrum „deskriptiver Wirklichkeitserzählungen“ Fakten und Wahrheit stehen, beschreiben „normative Wirklichkeitserzählungen“ einen Soll-Zustand und orientieren sich eher an richtig und falsch als an wahr und unwahr. „Voraussagende Wirklichkeitserzählungen“ versuchen, eine mögliche Zukunft zu prognostizieren. Praktisch kann keiner dieser Typen für sich allein existieren, und auch das Anthropozän weist deutliche Merkmale aller drei Kategorien auf: Zum einen bezieht es sich auf wissenschaftliche Fakten, zum anderen ist es begleitet von Zukunftsprognosen, die  zwischen der Apokalyptik eines menschengemachten Weltunterganges und der hoffnungsvollen Perspektive eines „guten Anthropozäns“ schwanken, in dem wir die Erde bewusst, aktiv und nachhaltig beeinflussen. Die dritte, normative Komponente wird in diesen Zukunftsvisionen deutlich: Nur Wissenschaft und ein bewussteres Leben, so die Botschaft, könnten die Welt jetzt noch retten. „Das Anthropozän ist ein Wertvermittler“, fasst Hoiß zusammen, „und seine Funktion als Narrativ hat einen ganz wesentlichen Einfluss darauf.“
Diese Wertebotschaft hat auch Hoiß‘ Leben entscheidend geprägt. Als Deutsch- und Englischlehrer stellte er sich immer wieder die Sinnfrage: Sollte Schule nicht mehr tun? Müssten nicht im Klassenzimmer größere Themen behandelt werden, wie Wertefragen und Nachhaltigkeit? Eines Tages besuchte er mit einer Klasse das Deutsche Museum. Im ersten Stock war eine Sonderausstellung, „Willkommen im Anthropozän! Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“. Der Gedanke ließ Hoiß nicht mehr los. Wenn er beschreibt, was ihn am Anthropozän damals in den Bann gezogen hat, zitiert er Voltaire und Spidermans Onkel: „Aus großer Macht“, sagen sie, „folgt große Verantwortung.“ Hoiß wollte sich dem stellen. Also nahm er eine Auszeit von der Schule und ging zurück an die Universität. Am Lehrstuhl seiner ehemaligen Professorin schrieb er sich als Promotionsstudent ein und begann die, wie er sie selbst bezeichnet, „grüne Wende in der Deutschdidaktik“ einzuleiten: Nachhaltigkeit und Verantwortung als zentraler Punkt im Fachunterricht.
Fast drei Jahre ist das jetzt her. Die Dissertation ist beinahe fertig und im letzten Jahr hat er das Buch Crossmediales Erzählen vom Anthropozän – eine Sammlung von Artikeln zu Anthropozän-Narrativen in erzählender Kunst, Literatur und Gesellschaft – mit herausgegeben. An der LMU München koordiniert Hoiß die Diskurs-Arena, ein Projekt, dessen Ziel es ist, Bildung für nachhaltige Entwicklung im Lehramtsstudium zu verankern. Neben den didaktischen Themen beschäftigt er sich mittlerweile in erster Linie damit, die Anthropozän-Debatte diskursanalytisch zu untersuchen und die Erzählstränge darin aufzuzeigen. „Irgendwann habe ich festgestellt: ganz so schlüssig ist diese Verantwortungslogik, die ich auch selbst angewandt habe, gar nicht. Aus großer Kraft folgt erst einmal gar nichts. Das gehört auch zu dem Narrativ dazu.“ 

Wissenschaft und/oder PR
Manchmal, wenn die Typen der Wirklichkeitserzählung verschwimmen, wird es schwierig zu trennen, wo Fakten enden und Werte beginnen. Um Transparenz zu schaffen, kommt es auf diejenigen an, die das Anthropozän erzählen. Einer davon ist der Wissenschaftsjournalist und Anthropozän-Experte Christian Schwägerl (siehe Interview auf Seite 8). „Ich sehe meine Rolle als Journalist darin, die Grundlagen, Denkstrukturen und neuen Perspektiven für mein Publikum sichtbar zu machen, damit es mithilfe meiner Artikel durch die Anthropozän-Diskussion navigieren kann“, erklärt er. Seit Jahren schreibt der studierte Biologe für verschiedenste mediale Plattformen über das Anthropozän. Nur, dass Schwägerl nicht bloß Erzähler, sondern auch Protagonist der Erzählung ist. Zwei Ausstellungen hat er mitkuratiert, neben der Sonderausstellung im Deutschen Museum auch das zweijährige „Anthropozän-Projekt“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Sein Buch Menschenzeit ist ein tief subjektiver Aufruf zu einem bewussteren Leben. Um den Interessenkonflikt zu entschärfen und seine zwei Rollen  zu vereinbaren, ist für ihn eine klare zeitliche Trennung wichtig: „Ich habe mir als Regel auferlegt, nie gleichzeitig Akteur und Berichterstatter zu sein.“ In den Jahren, in denen er an seinem Buch und den Ausstellungen arbeitete, versuchte er, sich aus dem Anthropozän-Journalismus fast komplett zurückzuziehen. Vollständig gelungen ist ihm das nicht. Doch in einem Diskurs, in dem es manchmal schwer fällt, die Trennlinie zwischen Wissenschaft, Berichterstattung und Wissenschafts-PR zu erkennen, ist bereits der Anspruch auf Trennung ein wichtiger Schritt. „Die Personen, die das Anthropozän prominent nach außen propagieren, sind fast alle Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropozän oder damit verknüpft“, berichtet Hoiß. Neben dem deutschen Geologen Reinhold Leinfelder, der als „Anthropozäniker“ einen sehr erfolgreichen Blog führt und für Interviews im deutschsprachigen Raum meist erster Ansprechpartner ist, war mit Andrew Revkin auch ein Journalist Teil der fachwissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Das Anthropozän-Projekt im HKW lief nicht nur unter der Schirmherrschaft des medial omnipräsenten Paul Crutzen, sondern wurde, wie die Sonderausstellung im Deutschen Museum, von Leinfelder mitinitiiert. Dieser ist auch Herausgeber eines in diesem Kontext entstandenen Comicbandes zum Anthropozän. In welche Richtung man im Anthropozän auch blickt, man trifft auf dieselben Namen. „Ich verstehe deren redliches Interesse, und ich glaube sie haben, wenn man so will, das Herz am richtigen Fleck“, meint Hoiß. „Aber wie sie vorgehen, ist nicht unkritisch zu sehen.“

Narrativ wird Wirklichkeit
Wieviel Einfluss die Empfehlung der Arbeitsgruppe und das mediale Bild auf die Entscheidung der Internationalen Stratigraphischen Kommission haben, bleibt abzuwarten. Deren Ergebnis ist jedenfalls weniger eindeutig, als es manchmal erscheint, bedenkt man, dass viele Geologen dem Anthropozän deutlich kritischer gegenüber stehen als die Öffentlichkeit. „Oft entsteht der Eindruck, als wäre das Anthropozän unausweichlich, als wäre es keine offene Entscheidung mehr, sondern bereits Realität“, so Hoiß. „Damit schafft man ein Stück weit Wirklichkeit.“ Heute, an dem Punkt, wo Erzählung und Realität aufeinander treffen und sich zu einer ungewissen Zukunft verflechten, wird die Selbstwirksamkeit des Anthropozän-Narratives zu einem entscheidenden Faktor: Wer vom Anthropozän spricht, ob befürwortend oder kritisch, schafft ein öffentliches Bewusstsein, das den Lauf der Erdgeschichte beeinflussen kann. Geologisches Zeitalter oder nicht, wenn uns die Erzählung darüber aufschreckt, wenn sie ein Happy End hat und wir, wie es sich viele Anthropozän-Multiplikatoren erhoffen, ein nachhaltiges Leben in einem „guten Anthropozän“ einleiten, wird der Mensch diesen Planeten in Zukunft aktiv gestalten und bewusst in seine Entwicklung eingreifen. Dann haben wir das Anthropozän herbei erzählt.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Wissenschaftsjournalismus am Beispiel des Anthropozäns“.

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