20 Songs für eine gepflegte Herbstdepression

Bist Du niemals traurig? Armer Tropf. Bist Du es gelegentlich doch? Gut. Hole die halbleere Flasche Roten vom Regal, setz’ Dich hin, trinke, rauche und gib Dich dem Schmerz hin … den Soundtrack dazu liefern wir.

von Heike und Luth

Antony & the Johnsons – Cripple and the Starfish
„It’s true, I always wanted love to be hurtful.“
Dieses Bekenntnis zur pervertierten Zwischenmenschlichkeit nimmt den Todesengeln der Liebe das Wort aus dem Mund. Romantik hat sich verunmöglicht. Deine Beziehung ist Kalter Krieg, deine Patchworkfamilie ein 10.000-Teile-Puzzle, und durch die Geschichte deiner Lieben zieht sich eine Schneise der Vernichtung.

Belasco – Summer
„I can’t feel this fear fall down this year. Can’t wait too long …“
Tim Brownlows latent wehklagendes Gesangsorgan klingt ja nicht einmal in optimistischen Belasco-Texten wirklich hoffnungsvoll – wie also in einem Song über den in seinem Herzen aufziehenden Herbst?

Archive – Dangervisit
„Make me sad, make me sleep, make me question. Give me things that can calm this depression.“
Pollard Berriers Weltschmerz ist nicht therapierbar. Alles ist kaputt, jeder Fluchtweg verbaut, die Menschheit süchtig nach Geld und bunten Pillen. Bleibt die Frage, wen er töten solle, wenn der „Krieg“ begänne …

Broadcast – Until then
„None of us have anything.“
In diesem Lied kann man hören, was Dir hinter Deinem Rücken verborgen bleibt: ein klagender Chor, ein larmoyantes Kammerorchester kleiner Kreaturen. Aufgereiht am Kopfende Deines Bettes, die schwarzen Knopfaugen unaufhörlich tränend, geigen sie traurige Loops, bis Du in traumlosen Schlaf fällst.

Sophia – The River Song
„I’m going to the river to see if I can find someone to protect me from what I desire.“
Robin Proper-Sheppard, dieser Eigenbrötler, schreibt Selbstmordsongs in Serie und scheut dabei weder Pathos noch dramaturgischen Bombast. Wer bei Sophia-Songs nicht weint, hat ein Herz aus Stein.

Death In Vegas – Girls
Ein Song wie ein ätherischer Drogenrausch. Tief im Sessel versunken gleitet die leere Whiskyflasche zu Boden, das Sein löst sich auf und fließt in die Fläche. Was bleibt, ist völlige Leere.

Cat Power – Ice Water
„Ah, you’ll swim and I will drink myself to death.“

Wenn im Herbst zum ersten Mal die Pfützen zufrieren und der Starrkrampf im Herzen nur noch mühselig mit harten Getränken gelöst werden kann, gibt es zwei Auswege und beides sind Wege durch die kalte See: a) durch das Eiswasser wegschwimmen, und b) Eiswasser trinken, bis die Tränen erstarren und Blumen an den Augen wachsen.

Elliott Smith – Pitseleh
„They say that god makes problems just to see what you can stand.“
Es ist eine aussichtlose Welt, notdürftig gesüßt mit „candy from some stranger“. Mit der Schuldenlast eines Atlasses auf dem Rücken schwindet jede Hoffnung. Ellioth Smith singt darüber, wie es ist, keine Kraft mehr zu haben.

Portishead – Roads
„Oh, can’t anybody see? We’ve got a war to fight.“
Daumennagelgroße Regentropfen klatschen ins verheulte Gesicht, wenn Beth Gibbons zerbrechende Stimme (und mit ihr die krankende Welt) in „Roads“ einen schmerzhaft-langsamen, wunderschönen Tod stirbt.

Final Fantasy – The Chronincles of Sarnia
„Sadly, no, I can reverse the river’s flow, but I can never send you home.“
Das Wasser versiegt, ein Sumpf entsteht um Avalon. Aus dem geheimen Garten hört man den Saughäcksler. Auf dem Weg ins Erwachsenenleben versagt die Kraft der Fantasie, und was bleibt, ist die Kälte einer Welt ohne Märchen.

PJ Harvey – Silence
„I freed myself from my family, I freed myself from work, I freed myself, I freed myself, and remained alone.“
Polly Jean besingt die absolute Freiheit, die Abwesenheit von Bedürfnissen. Nichts bleibt nach der Emanzipation. Dieses Lied ist für alle, die einen Affen schieben, weil ihnen die Sehnsucht nach Liebe unterwegs abhanden kam.

Henryk Mikołaj Górecki – Miserere
An der eigenen, schmerzlich und tief katholisch empfundenen Reumütigkeit kann man sich gütlich tun wie an einer Schweinshaxe aus der Fritteuse des Traditionslokals „Wartburg“, Theo-Neubauer-Str. 12. Guten Appetit!

U.N.K.L.E. feat. Gavin Clark – Broken
„Three lost years I’ve been crying here. I’m over, I’m over, I’m broken.“
Hilferuf aus einer gekalkten Irrenhaushöhle, die Fieberfantasie eines gescheiterten Menschen, der sein Bezugssytem verloren hat. Surreal, hypnotisch, getragen von Gavin Clarks elegischer Stimme.

Manau – Dernier Combat
„C’est sûr, aujourd’hui je sais où j’en suis: Je viens de finir le dernier chapitre de ta vie.“
Im patinierten Druidenkessel wird angerührt: keltische Rhythmen, bretonische Schwermut, französischer Rap. Schwer verdaut wird der Krebstod eines nahen Freundes. Es war der letzte Kampf, und dieser ging verloren.

Radiohead – Idioteque
„Women and children first!“
Apokalyptische Disco seit 3×3 Jahren. 3×3 Anzeichen im Einmaleins des Untergangs der Welt: Sterilisation der Seele, Elitedenken und Kleingeistigkeit. Bevor sie meinen Körper fluten, bevor ich gefüllt bin mit Metastasen, evakuiere ich mein Inneres kraft eines Liedes.

Shellac – Prayer to God
„To the one true God above: (…) There are two people here, and I want you to kill them.“
Diese aromatische Mischung aus sakralem Rausch und Rachephantasien sollte allen frisch Verlassenen runtergehen wie Öl.

Krzysztof Penderecki – Stabat Mater
„Stabat mater dolorosa/ Iuxta crucem lacrimosa/ Dum pendebat filius.“
Eine zu Unrecht weniger bekannte Kontrafaktur auf „The KKK took my baby away“.

Superpitcher – Happiness
„I want happiness. I seek happiness. To cause your happiness. To be your happiness.“
So oft man diesen Song auch laufen lässt, man weiß doch nicht, ob er einen nun Lachen oder Weinen machen soll. Er schafft – je nach Stimmungslage – beides.

Götz Widmann – Die zwei Trauben
„Uns’re beiden zarten Süßen zerplatzten unter seinen Füßen, um doch dann ganz kurz zu genießen, sich ineinander zu ergießen.“
Die lebende Hälfte des einstigen Joint Ventures aus Bonn besingt unerfüllte Liebe in einer so poetischen wie philosophischen Parabel über zwei unsterblich verliebte Weintrauben, die erst im Tode zueinander finden.

Thom Yorke – Harrowdown Hill
„I can’t take the pressure. No one cares if you live or die, they just want me gone.“
Schon als Sänger von Radiohead profilierte sich Yorke als Großmeister gepflegter Traurigkeit, und so lässt er auch auf Solopfaden keine Zweifel an der grundsätzlichen Labilität seines Seelenzustands aufkommen.


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