“Don’t open the fridge!”

Studentenwohnheime und ihre Tücken. Ein Abriss über das Wohnen und Leben in einer internationalen Gemeinschaft vor den Toren der niederländischen Hauptstadt.

von bexdeich

Uilenstede, das etwas andere Ghetto am Rande von Amsterdam. ‚Stede‘ bedeutet im Niederländischen so viel wie ‚Stadt‘. Der Ausdruck ‚Uil‘ verfügt über einen größeren Interpretationsspielraum. Er steht entweder für ‚Eule‘ oder aber für ‚Trottel‘. Es stellt sich die Frage: Was ist wohl gemeint, Stadt der Eulen oder Stadt der Trottel? Die Nähe zum Amsterdamer Wald spricht für die erste Variante. Die Tatsache, dass Uilenstede ab Ende der 60er Jahre eigens und ausschließlich für Studenten und sozial Benachteiligte errichtet wurde, lässt letztere Version nicht völlig abwegig erscheinen. Mehr als 3.000 Studenten nennen die Stadt der Trottel ihr Zuhause. Ich bin einer davon.

Dreck vergangener Semester
Im Voraus hatte ich mich guter Dinge für die günstigste Unterbringung entschieden: Ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer (mit Kühlschrank) und Gemeinschaftsbad und -küche, die mit zwölf weiteren Bewohnern benutzt werden. Als ich an einem sonnigen Augustnachmittag die Treppen zum zweiten Stock eines hässlichen, in die Jahre gekommenen Plattenbaus mit meinem Gepäck hinaufkeuche, hält sich meine Vorfreude auf das, was kommen könnte, bereits deutlich in Grenzen. Ich schließe die Tür auf, stehe auf dem wenig geputzten grün-braunen Linoleumboden im dunklen Flur und ein leicht modriger und abgestandener Geruch dringt in meine Nase. Ein kurzer Blick durch das milchige Glas der Küchentür verheißt nichts Gutes. Schnell weiter.
Mein Zimmer ist überraschend sauber. Nur die Vorhänge, Wände und die Matratze erzählen Geschichten voriger Mieter. L. Chun und R. Gonzales müssen zwei von ihnen gewesen sein; in meinem überfüllten Postfach vor der Küche finde ich viele an sie gerichtete Briefe. Wieder ein verstohlener Blick in die Küche. Ich bin im Begriff, die Tür zum Chaos aufzustoßen, da dröhnt es durch den Flur: “Don‘t open the fridge!“. Ich schaue erschrocken und mein Gegenüber setzt wieder an: “Yeah, don‘t open the fridge! It stinks like hell and it‘s really filthy.“ “Okay“, schlucke ich. “Oh, by the way: I‘m Jerry. I‘m from Curacao.“ “Nice to meet you, Jerry, I‘m Becci“, antworte ich und er schlurft weiter ins Bad.
Anderthalb Wochen später. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, im Dunkeln durch den Flur zu tapern und meine Zähne bei Mondscheinlicht zu putzen. Auch der erste Schock über die Küche ist verdaut. Trotz mehrmaliger nachdrücklicher Beschwerden bei der Wohnungsgesellschaft hat sich bisher nichts verändert, deswegen steht eine Gemeinschaftsputzaktion an. Unzählige Weinflaschen, Säcke an Lebensmitteln vergangener Jahre aus den Aufbewahrungsschränken, kaputte Elektrogeräte sowie Möbel verlassen nach und nach die Küche. Der klebrig-braune Film, der sich fast ausnahmslos überall niedergelassen hat, wird in mehrstündiger Fleißarbeit weggeschrubbt. Später stellt sich heraus, dass die Küche seit März 2012 nicht mehr geputzt worden ist. Der Gemeinschaftskühlschrank bleibt, stinkt, schimmelt und bietet Maden und Fliegen weiterhin ein nettes Zuhause.

Farbe bekennen
Drei Wochen später. Licht gibt es inzwischen im Bad. Jetzt sehe ich teilweise genauer, was an der Decke wächst. Die Waschmaschine surrt und mit viel Weichspüler lässt sich ihr muffiger Geruch, der sich auch in die Kleidung schleicht, einigermaßen übertünchen. Heute habe ich ohnehin besonders gute Laune, und so begebe ich mich zum Büro der Wohnungsgesellschaft, das neben Sport- und Kulturzentrum, Café, Imbiss und Supermarkt Teil von Uilenstede ist. Der Kühlschrank ist der Grund meines Besuchs. Ich muss einen denkwürdigen Auftritt hingelegt haben, denn keine Stunde später riecht es im ganzen Stockwerk unausstehlich. Der Kühlschrank wurde von seinem Inneren befreit. Wann dieses Ungetüm endlich vollständig entfernt und ersetzt wird, ist abzuwarten. Vielleicht sind die Gaststudenten aus aller Welt der Wohnungsgesellschaft schlichtweg egal. Der Vertrag ist unterschrieben, bevor je ein Fuß in das neue Zuhause auf Zeit gesetzt wurde. Frühzeitig kündigen ist nicht möglich. Der Wohnungsmarkt in Amsterdam ist ein Desaster. Die ausländischen Studenten verlassen ohnehin nach sechs oder zwölf Monaten wieder die Niederlande und für Nachschub ist kontinuierlich gesorgt. In Uilenstede gibt es Gebäude, die extra für kurze Aufenthalte ausländischer Studenten ausgewiesen sind. Von meinem siebenstöckigen Zuhause, wegen der roten Fenster und der Tatsache, dass wir alles teilen, von den Bewohnern „The Communist Building“ genannt, gibt es ein weiteres Exemplar. Die Studenten, die auf etwas Privatsphäre auf der Toilette Wert legen, können eine weniger als zwei Quadratmeter große, fensterlose Nasszelle ihr Eigen nennen und leben im grünen Turm. Die Miete liegt bei circa 400 Euro. Der grüne Turm ist ein Hochhaus mit 13 Stockwerken und 25 Vierzehner-WGs, hier leben fast ausschließlich Nicht-Niederländer. Die gelb-, blau-, violett-, orange- und rosafarbenen Türme sind den Einheimischen vorbehalten. Integration ade!
Die Situation auf meinem Flur ist ähnlich. Ein Niederländer lebt auf meinem Flur, der allerdings jeder Interaktion aus dem Wege geht. Alle anderen sind, genau wie ich, gerade erst eingezogen und sehr aufgeschlossen. Zehn unterschiedliche Nationen allein in unserer Wohnung: von Schweden über Bhutan bis Südkorea. Solange nicht gerade eines der Flugzeuge im Tiefflug, die Landebahn vom Flughafen Schiphol im Visier, über uns hinweg donnert und Konversationen abrupt unterbricht, lerne ich zwar die niederländische Sprache und Kultur nicht kennen, kann dafür aber viele andere interkulturelle Einblicke gewinnen.
Vier Wochen sind seit meinem Einzug vergangen. Ich habe aufgehört, die neuen Fett- und Tomatensoßen-Flecken an den Küchenfliesen zu zählen. Die Ergebnisse der gemeinsamen Putzaktion verblassen allmählich. Immerhin haben wir durchsetzen können, dass alle zwei Wochen eine Grundreinigung durch die Wohnungsgesellschaft durchgeführt wird. Gefährlich hohe Geschirrstapel okkupieren die ohnehin begrenzte Arbeitsfläche. Der Spanier Israel schreibt an unsere Pinnwand im Flur: „Kitchen rule: Please clean up after cooking. Thank you. Yours, Israel.” Keine zwei Stunden später ist unter der Küchenregel ein anderer Text zu lesen: „Clean up – each according to his/her ability, according to his/her time…” – der Autor bleibt anonym.

Stadt der Selbstorganisierten
In vierzehn Tagen wird bei uns im zweiten Stock die „Fiesta Latina Uilenstede“ stattfinden, eine der zahlreichen Hausparties. Bei facebook war das Event zuerst öffentlich. Innerhalb von zwei Stunden hatten sich bereits 90 Feierlustige angekündigt und weitere 130 waren eingeladen. Irene, Wohnungsälteste und Schweizerin, beruft eine Küchenkonferenz ein. Jetzt ist die Feier als privat markiert. Wie sich die Tequila-geschwängerte Nacht gestalten wird, bleibt spannend. Generell organisieren sich die ausländischen Studierenden vor allem über facebook-Gruppen. Fragen wie „Can anyone borrow me an iron?”, “Does anyone sell a bike?” (das Fahrrad ist überlebenswichtig in Amsterdam!) oder „Does anyone have the book ‘Global Political Economy‘?” sind typisch. Vorschläge für Ausflüge werden gemacht und jeder ist eingeladen, mitzukommen. Doch manchmal sind wie in vergangenen Zeiten handgeschriebene Zettel im Treppenhaus und Fahrstuhl zu finden: „Tonight, party in second and third floor. No. 298 and 300. Feel free to join. Bring your own booze“. Die Offenheit und Verbundenheit der internationalen Studenten sind bemerkenswert.
Ein zweites Naumburger Straße-Wohnheim ist Uilenstede nicht und eine Stadt der Trottel auch nicht; vielmehr ein Laboratorium, in dem international willkürlich zusammengewürfelte Gruppen widrigen Umständen begegnen und sie anpacken.

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