Polnischer Punk, gescheiterte Genies und leere Kinosäle

(Szenenfoto aus Dresens „Herr Wichmann“)
(Szenenfoto aus Dresens „Herr Wichmann“)

Das 1. Filmfest Weimar trekoulor war ein lobenswertes Unterfangen und muss dennoch als an mehreren Punkten gescheitert bezeichnet werden.

von David

Eine sehr schöne Idee! Das deutsch-französisch-polnische „Weimarer Dreieck“ in ein Filmfestival umzumodeln. Während aus Frankreich meist nur die dort erfolgreichsten Komödien ihren Weg nach Deutschland finden, verirrt sich leider nur selten ein polnischer Film in deutsche Kinosäle. Daher ist die Grundidee, diesen Problemen Abhilfe zu verschaffen und zugleich einen Ausblick auf vergangene und aktuelle Werke des deutschen Autorenkinos zu geben, überaus löblich. Trotzdem ist das 1. Filmfest Weimar auf mehreren Ebenen gescheitert.

Das fing bereits bei einer extrem banalen Kleinigkeit an: Die Terminplanung der Filme war eine Katastrophe. Sicherlich muss jeder Festival-Zuschauer eine persönliche Auswahl treffen und einige Filme leider verpassen. Doch gerade die als Höhepunkt auserkorene Andreas-Dresen-Retrospektive schnitt terminlich messerscharf durch das gesamte Festival-Programm – und sich selbst sogar ins eigene Bein! Das passiert eben, wenn man verschiedene Filme gleichzeitig projiziert, ganz besonders aber, wenn die Terminplanung in Halb- und Einstunden-Blöcke (und nicht in Zweistunden-Blöcke) unterteilt ist. Die Entscheidung für einen Film schloss also nicht einen, sondern meistens zwei (wenn nicht gar drei) andere Filme aus. Für den Cinephilen ein überaus ärgerliches logistisches Problem, zumal jenes einfach nur wie bei zahllosen anderen Filmfestivals durch einen früheren Programmbeginn (z.B. 13.00 Uhr statt 17.00 Uhr) hätte gelöst werden können!

Von Schreiadlern in Brandenburg und Grenzbaracken in der Polarwüste

Der Eröffnungsfilm beim Open-Air-Kino im Weimarhallenpark war Andreas Dresens Herr Wichmann aus der dritten Reihe (2012). Das Sequel von Herr Wichmann von der CDU (2003) präsentierte wieder in unkommentierten dokumentarischen Bildern das Leben eines Provinzpolitikers, der  Brandenburger „MdL“ geworden ist und der aufgrund der alphabetischen Sitzordnung in der dritten Reihe der Unionsfraktion sitzt. Dresen zeigt den Alltag des Abgeordneten in seiner ganzen skurrilen Absurdität: Wenn Henryk Wichmann sich um das Schicksal einer Schreiadler-Familie kümmern muss, deren Lebensraum durch den Bau eines ländlichen Radwegs gestört wird, hatte der Film die herzlichsten Lacher auf seiner Seite. Lediglich der offensichtliche Realismus-Anspruch des Films – durch die Handkamera unterstrichen – wirkte an manchen Stellen gar zu dick aufgetragen und unnatürlich.

Ebenso als Dokumentarfilm angekündigt wurde Koniec Rosji – An der Grenze Russlands (2010) des polnischen Regisseurs Michał Marczak. Tatsächlich war es eher ein Spielfilm, in dem Laien sich selbst spielen. In der Nähe des Polarkreises unterhält die russische Armee einen Grenzposten: eine verschneite Baracke in einer Eiswüste, in der ein halbes Dutzend Soldaten leben. Dort rückt der junge Rekrut Alexej zu seinem Militärdienst an. Die Härte der klimatisch extremen Umgebung und der Armeeausbildung sowie die Grobheit seiner Vorgesetzten weichen allmählich einer brüderlichen Annäherung der Männer. Ihre Anwesenheit, ihr ganzes Leben an diesem verlassenen Ort erscheint sinnlos und gewinnt erst durch gemeinschaftliche Rituale (Essen, Trinken, Musizieren, Armdrücken, Geschicklichkeitsspiele) einen Sinn. Gerade die Rückkehr in die Zivilisation wirkt dann wie ein unerträglicher Bruch. Marczak ist ein überaus eindringliches Debüt gelungen, ein Film über Menschlichkeit an einem Ort, wo es nur Schnee gibt – und gewissermaßen ein Denkmal für verbesserte russisch-polnische Beziehungen, das gerade in Polen vielleicht nicht in allen Kreisen unumstritten gewesen sein dürfte.

Drei Länder – tausende Visionen

Benjamin Heisenbergs Der Räuber (2010) handelt hingegen von einem Marathon-Läufer, der zu einem zwanghaften Bankräuber wird. Der österreichisch-deutsche Film ist keineswegs ein Krimi, sondern das intime Psychogramm eines getriebenen Mannes: Der Räuber in ihm denkt eigentlich immer nur ans Laufen, der Läufer jedoch immer nur ans Rauben. Die Beuten seiner Raubzüge lagert er genauso unangetastet unter seinem Bett, wie er die Trophäen seiner gewonnenen Läufe ungerührt entgegen nimmt. Andreas Lust trägt durch seine Darstellung der Hauptfigur maßgeblich zum Gelingen dieses Films bei, der vor zwei Jahren leider in den deutschen Kinos floppte.

In La lisière – Am Waldrand (2010) zieht ein junger Arzt in eine Landgemeinde, wo sich die Jugendlichen unter der Führung des charismatischen Cédric zu rituellen Zeremonien in den Wald zurückziehen. Sie beginnen mit dem Zugezogenen und seiner Freundin ein Katz-und-Maus-Spiel um Verführung und Macht. Das Spielfilm-Debüt der Französin Géraldine Bajard ist keineswegs vollkommen und an manchen Stellen zu fragmentarisch, lebt jedoch von einer bedrückenden und surrealen Atmosphäre, in der Andeutungen (ob mit Sex oder Gewalt aufgeladen) weitaus wichtiger sind als das Hör- und Sichtbare. Die Jungdarsteller spielen großartig, nicht trotz, sondern gerade weil sie absolute Laien sind, so die anwesende Regisseurin. Es handelte sich auch um den einzigen gesichteten Film, der mehr als die Hälfte des Kinosaals füllte – zugegeben der „kleine“ Vorführraum 2 im ohnehin gemütlichen Lichthaus Kino.

Weniger düster und mit einer teils unbändigen Energie präsentierte sich Wszystko, co kocham – All That I Love (2009). 1981: das Ringen zwischen der freien Gewerkschaft „Solidarität“ und dem kommunistischen Staat führt Polen an den Rand eines Bürgerkriegs. Das ist Janek und seinen Kumpels freilich egal, denn sie wollen mit ihrer Band einfach nur guten Punk-Rock spielen und sich nebenbei verlieben. Da ihre Eltern und die Eltern der Angebeteten im gegnerischen politischen Lager aktiv sind, ist letzteres nicht immer einfach. Punk-Rock funktioniert auf polnisch genauso toll wie in seiner „Muttersprache“ englisch, die jungen ebenso wie die älteren Darsteller strotzen vor Charisma und Präsenz, und die rasante Inszenierung lässt dem Zuschauer nur selten eine Atempause in dieser exzellenten Coming-of-age-Musical-Tragikomödie. Einige verkitschte Momente und wenige überflüssige Wackelkamera-Spielereien können daher locker verziehen werden.

Zum Glück jedoch war der Regisseur Jacek Borcuch nicht anwesend: Er hätte sicher keine Freude daran gehabt zu sehen, dass der riesige Weimarhallen-Saal nicht einmal annähernd zu einem Zehntel gefüllt war. Dies war aber nur der extremste Ausdruck eines grundsätzlichen Problems, das das Festival plagte. Auch hier: Wer vorher Dresens Halt auf freier Strecke sehen wollte, musste auf Borcuchs Film verzichten und/oder musste einem der beiden anderen (halb)gleichzeitig laufenden Konkurrenzveranstaltungen den Vorzug geben. Vielleicht lag das aber auch an anderen Faktoren: an der letztlich unklaren Programmatik und Zielsetzung des Festivals, an der Übersättigung Weimars mit Kulturveranstaltungen, am mangelnden überregionalen Anspruch, an einer lokal begrenzten Werbekampagne…

Mit Sissi in die Hölle

Der Dokumentarfilm L’enfer d’Henri-Georges Clouzot – Die Hölle von Henri-George Clouzot (2009) spiegelte auf metaphorischer Ebene sehr gut die Probleme des Festivals wider. Er zeichnet nach, wie der berühmte französische Regisseur Henri-Georges Clouzot (u.a. Lohn der Angst) an seinem ambitioniertesten Projekt, dem Eifersuchtsdrama L’enfer – Die Hölle (1964) scheiterte und lediglich eine Sammlung ungeordneter belichteter Filmrollen hinterließ. Von der nouvelle vague als biederer Vertreter des Kinos von gestern verschrien und von Fellinis inspiriert, beabsichtigte Clouzot einen Film zu drehen, der alles bisher gesehene an visueller Kühnheit übertreffen sollte. Monatelange Probeaufnahmen mit Hauptdarstellerin Romy Schneider und visuellen Verzerrungsexperimenten verzögerten den Terminplan. Beim eigentlichen Drehen brachte Clouzots manischer Perfektionismus nicht nur ihn selbst, sondern sämtliche Crew-Mitglieder an den Rande des Wahnsinns. Nachdem Hauptdarsteller Serge Reggiani – wahrscheinlich aufgrund eines Nervenzusammenbruchs – den Drehort verließ, arbeitete der Regisseur ohne Ersatz ziellos weiter und brach mit einem Herzinfarkt zusammen. Clouzot erholte sich, der Film blieb unvollendet.

Die übergebliebenen fragmentarischen Bilder von L’enfer sind surreal, verstörend, erstaunlich, beunruhigend und schlichtweg faszinierend – und lassen den Zuschauer das Scheitern des Films bereuen. Dass der Doku-Regisseur Serge Bromberg jedoch zwei heutige Schauspieler vor einer grauen Wand Originaldialoge von einem Blatt ablesen lässt, stellt die wohl lächerlichste und peinlichste „postmoderne“ Spielerei dar, die es je in das Doku-Genre geschafft hat. Negativ fiel auf, dass der Film auf jener DVD gezeigt wurde, die in Deutschland vor zwei Jahren herausgekommen ist – ein Anblick, an den man sich in Zeiten zunehmender Digitalisierung des Kinos wird gewöhnen müssen, jedoch trotzdem nicht gut heißen sollte. Zudem konnte der aufmerksame TV-Zuschauer die Doku auch schon vor einem Jahr im dritten Programm sehen.

Mit anderen Worten: Brombergs L’enfer d’Henri-Georges Clouzot gehört wie die Mehrheit der gezeigten Werke zur Kategorie „nicht mehr ganz taufrischer“ Filme. Das mindert den individuellen Kinospaß keineswegs, wird aber dem Festival langfristig kein „Alleinstellungsmerkmal“ – und somit auch keine Exisitenz-Legitimation – geben können. So fühlte man sich oft eher in einer Retrospektive, die die Reste der drei vergangenen Festivaljahre wiederverwertete, als bei einem „echten“ Filmfestival. Das Signal von trekoulor, dass auch „kleinere“ französische und polnische Filme es wert sind, in deutschen Kinos gezeigt zu werden, ist absolut löblich und unterstützenswert. Um dem jedoch mehr Nachdruck zu verleihen, müsste die Veranstaltung ein klareres Profil entwickeln und vielleicht ein echtes Wettbewerb-Programm entwerfen, den aufsteigende Autorenfilmer aus Deutschland, Frankreich und Polen als ersten Anlaufpunkt nehmen könnten. Damit würde sich das Festival möglicherweise zu einem wirklichen überregionalen Ereignis entwickeln; und vielleicht dann auch für mehr Zuschauer attraktiv werden. Aber aus Fehlern lernt man – und für nächstes Jahr haben die Veranstalter zwölf Monate statt (wie bei der Eröffnung gebeichtet) nur sechs.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert