Ungarn: Eine Gesellschaft rückt nach rechts?

Foto: © „I stand with CEU“ (via Facebook)

Auf einem Streifzug durch die urigen Bars von Budapest lernt unser Redakteur die ungarische Gesellschaft kennen: Ein Land zwischen Besinnung auf nationalkonservative Werte und dem Streben nach Wohlstand und Weltoffenheit.

von Dennis

Am besten lernt man eine große Stadt durch die öffentlichen Verkehrsmittel kennen. So auch Budapest: Aus dem Straßenbahnfenster reihen sich altehrwürdige Prachtbauten aneinander und ragen bis zum Stadtrand über sanfte Hänge in die Höhe. Wenn man über die Donau schaut, fällt das prunkvolle Parlamentsgebäude ins Auge. Das, was sich darin derzeit abspielt, hat auch viel mit einem Rückschritt in die Vergangenheit zu tun.
Im Café Alap, mitten in der belebten Innenstadt Budapests, lerne ich Ira* kennen. Im Café läuft ungarische Musik. Die Ungarn sind sehr stolz auf ihre Musik, auf Frank Liszt oder auch Béla Bartók, die in ganz Europa und darüber hinaus gehört werden. Solche Musik läuft auch hier. Ira erkennt die Interpreten sofort; sie ist mit klassischer Musik aufgewachsen. Zudem zeigt sie mir einen Gedichtband des großen revolutionären Dichters Sándor Petőfi. Mit den ungarischen Original-Texten versucht sie unter anderem die Sprache zu lernen.
Ira ist Deutsche und studiert in Budapest. Ihre Eltern stammen aus der ehemaligen DDR und flohen im Sommer 1989 von dort über Ungarn nach Westdeutschland: Die Sperranlagen wurden dort bereits im Mai 1989 abgebaut. Damals war sie zwar noch nicht geboren, aber die Erzählungen ihrer Eltern hatten in ihr eine immense Faszination für das Land Ungarn ausgelöst. Am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1956, wurde die Republik Ungarn ausgerufen.
Gerade aufgrund der ungarischen Freiheitskämpfe sei es erschreckend, so Ira, dass nach dem EU-Beitritt Orbáns rückwärtsgewandte Politik auf so viel Rückhalt in der Bevölkerung stößt. Sie vermutet, dass die Bürger dieses Einparteienstaates nach dem Fall des Eisernen Vorhangs statt ein neues Selbstbild zu konstruieren lieber die Flucht in den alten Nationalstaatsgedanken suchten. „Die Politiker suchen Legitimation durch nationale Symbolik“, meint Ira. Als konservativ, wie die Regierungspartei sich deklariert, sei sie jedoch nicht mehr zu bezeichnen, weil sie sich eindeutig zu wenig von rechten Kräften abgrenzt.

Orbán gegen Soros
Wir entschließen uns, zusammen in das Szimpla Kert weiter zu ziehen, eine der bekanntesten Bars Budapests mit internationalem Flair. Es lassen sich im Stimmengewirr mehrere Sprachen ausmachen, vornehmlich Englisch und osteuropäische Sprachen, aber ebenso Russisch, Französisch und zu einem großen Teil natürlich auch Deutsch. In Budapest sind Kneipen in Ruinen gerade en vogue. Das Szimpla Kert war früher mal eine Ofenfabrik und zur Zeit des Kommunismus eine Fabrik für Schulschränke. Hier treffen wir Freunde von Ira, die an einer anderen Uni studieren, einer der internationalsten Universitäten in ganz Europa: Die Central European University, die ihren Sitz ursprünglich in New York hat, aber auch in Budapest lizensiert ist, wurde vom Milliardär George Soros gegründet. Die Intention war es, nach Zusammenbruch des kommunistischen Systems eine offene und demokratische Gesellschaft zu fördern. Die Studierenden, mit denen ich ins Gespräch komme, stammen aus Deutschland, Polen, den Niederlanden, Spanien, und Venezuela. Ihre Gründe, nach Budapest zu gehen, sind unterschiedlich: von dem Wunsch Osteuropa zu sehen bis zu einer Faszination für die kommunistische Vergangenheit und die vielen Freiheitskämpfe Ungarns.
Die Gespräche unter den Studenten drehen sich immer noch um Maßnahmen der ungarischen Regierung gegen die Universität im Sommer 2017. Die Regierung wollte seinerzeit ein neues Hochschulgesetz verabschieden. Ihr Gesetzesentwurf wird als direkter Versuch angesehen, die Universität des Orbán-Kritikers Soros aus Budapest zu verbannen. Mehr als 900 Akademiker aus aller Welt unterzeichneten daraufhin einen Protestbrief, der sich direkt gegen die repressiven Maßnahmen richtete. Die EU-Kommission leitete dann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein, da das neue Gesetz gegen Grundfreiheiten des Binnenmarktes verstoße, indem es den freien Zugang zu Bildungsressourcen missachte. War das darauffolgende Einlenken Orbáns für die Universität und ihre Studierenden auch ein kurzes Durchatmen, ist es für die Studierenden keinerlei Anzeichen dafür, dass die ungarische Regierung von ihrem Kurs zur Besinnung aufs Nationalstaatsdenken abweichen würde. Nach wie vor sei die Bedrohung für das Fortbestehen der internationalen Universität sehr hoch und sie fürchten weitere Schikanen der Regierung.

Rechte Kräfte in der Mitte der Gesellschaft
Ira findet es traurig, dass gerade in dem Land, in dem der Umbruch 1989/90 so friedlich abgelaufen ist, zusehends eine nationalistische Radikalisierung stattfindet. Sie redet sich in Rage über die Menschen im westlichen Europa: Die Unterwanderung der Demokratie werde dadurch erleichtert, dass der westliche Part der EU sich in seinen liberalen Grundwerten einlulle und dabei die Probleme zusehends vernachlässige, die der Übergang der ex-kommunistischen Systeme in marktwirtschaftliche Demokratien mit sich brachte. Die einzige Reaktion der Europäischen Union sei die Androhung von Sanktionen, ansonsten könne die rechtsgerichtete Regierung hier ungehindert machen, was sie wolle, auch wenn dies sich eindeutig gegen das europäische Recht richten würde. Von rechten Bewegungen in anderen Teilen Europas wie in Frankreich oder Großbritannien zeige man sich offensichtlich betroffen; wenn es jedoch um rechte Bewegungen in Osteuropa geht, so reagierten sogar die Intellektuellen mit ungewöhnlichem Desinteresse und Lethargie.
Die anderen Studierenden sagen, das gesellschaftliche Problem mit den rechten gesellschaftlichen Kräften sei, dass es einerseits eine Forderung aus der Gesellschaft nach derartigen Programmen gebe und anderseits eine Akzeptanz für solche Inhalte in der Gesellschaft vorhanden sei. Gerade dadurch, dass rechte Kräfte sich in der Mitte der Gesellschaft etabliert haben, ist die Gesellschaft nun offen und tolerant für die Unterdrückung der Opposition, wenn die Legitimierung sich daraus ergibt, dass ein möglicher Angriff auf die Kultur Ungarns erfolgen könnte.
Nachdem die Gruppe sich aufgelöst hat, fahren wir mit der U-Bahn, die in ihrem rustikalen Look auch noch immer aus kommunistischen Zeiten stammen könnte, in das Viertel, in dem Ira zurzeit wohnt. In einer Bar im Arbeiterviertel Angyalföld im Norden von Pest, in der das studentische Publikum deutlich abgeebbt ist, komme ich im Verlauf des Abends ins Gespräch mit Miklós, einem gebürtigen Ungarn. Deutlich, aber dabei keineswegs unfreundlich, erklärt er mir seine Sicht der Dinge: Er gibt sich als Anhänger der Regierungspartei zu erkennen und sagt, er stimme mit deren Ansichten zur Flüchtlingspolitik zumindest weitestgehend überein. Man habe bereits das Problem, dass es schwer sei, die Roma zu integrieren, sagt er. „Wie soll man also noch die ganzen Flüchtlinge, die herkommen, integrieren?“ Natürlich sei man gastfreundlich, aber eben auch realistisch. Von daher findet er die unbedingten Vorkehrungen zur Sicherung der Grenze zu Serbien, wo die sogenannte Balkanroute verläuft, auch richtig. Eine gewisse Ordnung in Europa müsse ja schließlich auch sein. Es sei wichtig, dass Ungarn sich auf seine Wurzeln sowie seine Traditionen und Werte besinnt. Das Ungarntum und die Nationalkultur seien elementarer Bestandteil des ungarischen Selbstverständnisses und dies müsse man auch in Europa akzeptieren. Angesprochen auf die Kontroverse um die Central European University sagt er, dies sei überhaupt nicht seine Welt, da er Arbeiter sei. Angesprochen auf den vermuteten Grund für Orbáns Vorgehen sagt er, „solchen amerikanischen Oligarchen“ wie Universitätsgründer Soros sei nicht zu trauen.
Mit gemischten Gefühlen verlasse ich die Bar. Es war ein gutes Gespräch auf Augenhöhe. Andererseits verbietet es mein moralisches Empfinden mir, mit diesen Inhalten übereinzustimmen. Ich möchte mir aber dennoch das Urteil erlauben, dass man trotz ideologischer Verbohrtheit mit vielen Anhängern rechtspopulistischer Parteien immer noch das Gespräch suchen kann und dies auch tun sollte.

* Name von der Redaktion geändert


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