Umzingelt von Feinden: Orhan Pamuks „Schnee“

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Der Film- und Theater-Regisseur Hakan Savaş Mican adaptiert den Roman des Literaturnobelpreisträgers als ein Stück über Konflikte innerhalb der türkischen und der deutschen Gesellschaft.

von Tsil

Hakan Savaş Mican ist 32 Jahre alt, lebt in Berlin und ist Film- und Theaterregisseur. Er drehte zwei Kurzfilme und schrieb, adaptierte und inszenierte mehrere Theaterstücke. Sein letztes Werk „Schnee” lief im November und Dezember im Ballhaus Naunynstraße, einem Haus für postmigrantisches Theater im Herzen Berlins.
Mican wurde 1978 als Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie der ersten Generation in Berlin geboren. Die Familie musste ihr sechsmonatiges Kind wieder zurück in die Türkei schicken, weil die Eltern drei, manchmal vier Jobs brauchten, um über die Runden zu kommen. „Da bin ich aufgewachsen“, sagt der Regisseur, „in der Hoffnung, dass sie zurückkommen.“ Was wohl nie geschah. So entschloss sich der 19-jährige Mican, nach Deutschland zu ziehen, die fremde Sprache zu lernen und sein Abitur zu machen. Er studierte erst Architektur, dann Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.

(Post-)Migration und gesellschaftliche Realität
Schon während der Regieausbildung kam er in Kontakt zum Ballhaus Naunynstrasse, das seit seiner Entstehung auf ein großes Publikums- und Medieninteresse stieß. „Das Ballhaus ist ein Theater, das eine politische Identität geschaffen hat“,  sagt Mican. „Postmigrantisch” bedeute eine Verortung. So sollen die Themen definiert werden, eben Geschichten, die im Migrationskontext entstehen, die aber keineswegs von eingewanderten Personen handeln müssen. Allein dies ziehe die große Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, denn solch eine Kulturbetrachtung sei keineswegs in den großen Spielstätten der elitären deutschen Theaterkunst zu finden. „Sie wollen eben nur immer wieder Shakespeare inszenieren. Doch die Migration und auch die migrantische Realität sind wichtige Säulen der Gesellschaft geworden, die nicht nur von den klischeehaften Fernsehbildern behandelt werden sollten.“

Zwischen den Fronten
Nachdem Mican für das Ballhaus mit großem Erfolg drei Stücke schrieb und zwei inszenierte, machte er sich auf die Suche nach einem weiteren. Er wünschte sich, etwas über die Türkei auf die Bühne zu bringen und kam auf die Idee, das Buch „Schnee” von Orhan Pamuk zu adaptieren. Der Roman erzählt die Geschichte des Dichters Ka, der in seine Heimat mit dem Auftrag einer Zeitung zurückkehrt, über eine seltsame Serie von Selbstmorden in einer kleinen Stadt namens Kars zu schreiben. Doch diese versinkt im Chaos, welches an einem Abend im städtischen Theater seinen gewalttätigen Höhepunkt findet. Ka gerät dabei zwischen die Fronten der Westler (Kemalisten) und der Islamisten, die den Fremden heftig umwerben und für ihre Sache zu gewinnen suchen. Der Dichter ist aber wie ein Grenzgänger, der sich nicht entscheiden kann, der immer auf der Suche, immer unfassbar bleibt.

Gehört der Islam zu Deutschland?
Doch diese Geschichte wollte Mican nicht inszenieren, da das Buch über eine alte Zeit erzählt, eher die 90er Jahre, als die politischen Islamisten wenig Kraft, die Armee und die pro-westlichen Kemalisten indes die Oberhand in der Türkei hatten. „Mittlerweile ist es anders in der Türkei“, sagt Mican, „der Islam ist ein ganz normaler Teil der alltäglichen Rituale geworden. Es gibt immer mehr reiche religiöse Familien. Werbungen von Armani und Versace stehen Seite an Seite mit Werbung für Kopftücher. Islam und Religion an sich sind Mainstream geworden.“
Es machte also wenig Sinn, diese Geschichte so zu inszenieren. Die Lösung? Das Stück „Schnee” frei nach den Motiven des Romans in einer deutsch-europäischen Perspektive zu inszenieren. „Nachdem ich das gesehen hatte [die Debatte um Sarrazin], war ich ein bisschen verzweifelt. Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht? Ich dachte, dass es viel spannender und interessanter wäre, wenn ich die Geschichte Pamuks in diesen deutschen Konflikt einbringen könnte.“
Und genau das tat er: Aus Kars wird Karsberg, eine deutsche Stadt, in der Verarmung und das Versiegen der öffentlichen Mittel den Boden bereitet haben für einen neuen Islamismus, dem vor allem Deutsche ohne Migrationshintergrund anhängen. Es geht also dabei nicht um Integrationsdiskurse, sondern um den Islam und Deutschland. Dort bekämpfen sich die radikalen Muslime und ihre Gegner bis auf‘s Messer, wobei – wie im Buch – ein unsicherer Ka zwischen den verschiedenen Seiten laviert, ohne es zu schaffen, seine große Liebe aus der vergessenen Stadt zu holen.

Unverständnis trifft auf Aggression
Blutige Gewaltszenen wurden beiseite gelassen, denn es handelt sich dabei nicht um die Gewalt, die zwischen extremen Gruppierungen in einer deutschen Stadt entstehen könnte, sondern eher um gesellschaftliche Spannungen, die unter anderem aufgrund mangelnder Kommunikation immer stärker werden. Es geht aber auch um Liebe, um menschliche Emotionen, um Humor.
Bei der literarischen Konzeption von Pamuks „Schnee“ ging es unter anderen um die Angst der Kemalisten vor dem Islam. Ihr Wunsch, aus einer muslimisch-östlichen Gesellschaft eine andere, eben modernisierte und laizistische zu machen, führte dabei zur Unterdrückung der Muslime und deren Lebensweise und schließlich zu Radikalisierungen und Gewalt.
Mican seinerseits ist es sehr gut gelungen, satirisch und provokativ eine Geschichte zu inszenieren, die eine europäische Realität darstellt, bei der die gesellschaftlichen Ängste und deren Folgen zu immer größeren gesellschaftlichen Spannungen und zur Eskalation führen. Prima gemacht! Denn auch wenn wir weit davon entfernt sind, scheinen die Angst vor dem Islam und die Gesellschaftsspannungen in einem Europa von Sarrazin und dem mächtigen niederländischen Islam-Gegner Geert Wilders nur zu wachsen.
So verwundert es auch nicht, dass die Premiere ausverkauft war. Doch trotz allen Erfolgs will Mican sich nicht mehr mit Theater beschäftigen. Theater sei für den Filmemacher viel zu anstrengend, zwei Jahre Zusammenarbeit mit dem Ballhaus seien nicht geplant gewesen. Jetzt will er an seinem neuen Film „Der Dolmetscher ist tot“ und an einem Film für seinen Studienabschluss arbeiten. Weitere Theaterstücke sind erst einmal nicht geplant. Schade.

(Foto: © mediateletipos.net)

WIEDERAUFNAHME von „Schnee“ im Ballhaus Nauynstraße (Berlin):

7.-11. April 2011, jeweils 20 Uhr


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