Rezension: Watson in Weimar

Dieser Meisterdetektiv ist nicht in Londons Bakerstreet zuhause, sondern am Frauenplan in Weimar: Der außergewöhnliche Krimi Durch Nacht und Wind versetzt einen Mordfall nach Sherlock-Holmes-Manier in die Goethe-Zeit.

von Frank

„Ich erinnere mich noch recht gut der Ereignisse, von welchen hier die Rede seyn soll. Fast jeder tut dies, denn sie haben seinerzeit allenthalben für beträchtliches Aufsehen gesorgt.“ – mit diesen bedeutungsschwangeren Worten eröffnet der Ich-Erzähler, der in diesem Falle niemand geringerer als Friedrich Schiller ist, den zur Zeit der Weimarer Klassik angesiedelten Kriminalroman Durch Nacht und Wind. Natürlich sind die darin aufgezeichneten „criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe“ (so der Untertitel des Buches) ebenso erdacht wie die Autorenschaft Schillers.
Aber der Reihe nach: Unsere Erzählung beginnt im Januar 1797. Der Geheimrat von Goethe und Hofrat Schiller werden von Anna Amalia, der Mutter von Weimars Regenten und Goethes gutem Freund Carl August, „zu Hülfe gerufen“, um einen Todesfall ohne sichtbare oder erklärbare Ursache in waschechter Sherlock-Holmes-Manier zu lösen. Die sonderbaren Umstände erfordern die minutiöse Beobachtungsgabe Goethes, die seinen Freund Schiller mitunter staunend zurücklässt.

Das Beste aus zwei (oder mehr) Welten
Ein solches literarisches Crossover erfordert vom Autor einerseits dem Duktus der Übersetzungen von Arthur Conan Doyles Texten und andererseits dem Setting des späten 18. Jahrhunderts im herzoglichen Weimar gerecht zu werden. Was wie die sprachliche Fingerübung eines Literaturwissenschaftlers klingt, ist in Wirklichkeit das Werk eines „Komödianten“, wie man im Goethe-Sprech wohl sagen würde: Stefan Lehnberg ist eigentlich Autor der Radiocomedy Küss mich, Kanzler! und hat zudem im Comedy-Bereich u.a. Texte für Harald Schmidt und das Magazin Titanic geschrieben.
Die ein oder andere Seite Goethe und Schiller wird Lehnberg allerdings auch gelesen haben, sonst wäre ihm der besagte Stil wohl nicht so leicht von der Hand gegangen. Klar, an mancher Stelle klingt das etwas bemüht, aber Begriffe wie „darob“, „erquicken“, „sey“ (statt sei) oder „drei Viertel Stunden“ (für 45 Minuten) verleihen dem historischen Krimi auch Authentizität. Und mehr noch: Nicht nur lassen sich mit solch einer verschnörkelten Sprache vortrefflich Seiten füllen; sie eignet sich auch wunderbar für das, was man neudeutsch als „World Building“ bezeichnen würde. Die Krux ist aber, dass diese unterhaltsame Spielerei auf 230 Seiten ausgedehnt wird – wodurch Durch Nacht und Wind nicht nur länger ist als die meisten Holmes-Geschichten Doyles, sondern mit der Zeit auch einiges von seinem Zauber verliert.

Fan-Service mit Faust-Zitaten
Bei der Stange hält Lehnberg seine Leser mit allerhand „Easter Eggs“ und Anspielungen, sei es zu Schillers und Goethes Werken oder den Biographien der Dichter-Detektive. So lässt er die beiden beispielsweise detailliert über das Hexen-Einmaleins aus dem ersten Teil des Faust diskutieren (wobei Faust I freilich erst nach Schillers Tod fertiggestellt wurde, aber die Freunde bereits vor 1800 im Austausch über das Projekt gestanden hatten). An anderer Stelle lässt Lehnberg Schiller spontan den Satz „Der Starke ist am mächtigsten allein“ sagen – eine Zeile aus dessen später entstandenen Drama Wilhelm Tell.
Aber auch Gewohnheiten und Eigenheiten der beiden Dichter werden eingeflochten, etwa Goethes eigene leidige Erfahrungen mit Standesunterschieden bei Liebesbeziehungen – schließlich hatte die Liaison mit seiner Christiane, die er erst nach 18 Jahren ehelichte, in Weimar Unmengen Tratsch und bösartiges Gerede hervorgerufen. Schiller dagegen lässt der Autor über prekäre finanzielle Verhältnisse sinnieren, mit denen dieser vor dem (kommerziellen) Erfolg seiner Dramen bestens vertraut war: „… wusste ich doch aus eigener Erfahrung, dass man selbst berühmten Professoren oft nur Hungerlöhne zahlt“, seufzt der Namenspatron der Jenaer Universität in Lehnbergs Historienkrimi.

Sherlock Holmes und Goethe sind sich nicht unähnlich
Auch Gemeinsamkeiten zwischen dem englischen Meisterdetektiv Holmes und dem deutschen Universalgelehrten Goethe arbeitet Lehnberg geschickt heraus: die medizinischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse; das bisweilen wortkarge und in eigene Gedanken versunkene Grübler-Naturell (Schiller und Dr. Watson teilen darum das Schicksal, in die Erkenntnisse ihres Begleiters oft erst spät eingeweiht zu werden). Ganz wesentlich ist auch die Abneigung oder mindestens Skepsis gegenüber übernatürlichen Erklärungen sowie der Fokus auf Fakten und rationale Erklärungen, die den ermittelnden Goethe bei Lehnberg wie auch Doyles Holmes kennzeichnen: So werden die Puzzleteile nach und nach, nicht selten auf Basis naturwissenschaftlicher Kenntnisse, zusammengesetzt.
Autor Lehnberg gestaltet die „Ermittlungen“ um den angeblich verfluchten, todbringender Ring dabei mitunter etwas arg actionlastig und zu konstruiert; die Überspitzung ist aber ganz klar auch im Sinne des Autors. Noch dazu ist das Buch durchzogen von zahlreichen „Ex machina“-Momenten und Wendungen, die wohl vor allem darauf zielen, das Buch über die 200-Seiten-Marke zu hieven. Das wandelt sich im letzten Drittel von abenteuerlich zu – so muss man es leider sagen – zunehmend lächerlich, wenn er die beiden Dichterfürsten auf eine Ballonfahrt (!) gen Nürnberg schickt. Dabei ist es allerdings äußerst unwahrscheinlich, dass ein technikinteressierter Vielleser (und Frankreich-Kenner) wie Goethe 1797 noch nicht genau wusste, was es mit dem Heißluftballon der Gebrüder Montgolfier auf sich hatte – und das fast 15 Jahre nach den ersten bemannten Flügen in Paris.
Aber abseits dieser phasenweisen Schwächen: Lehnbergs Buch ist sprachlich erfrischend anders und macht mit seiner schnörkeligen Aufmachung auch optisch etwas her, unterhält für den moderaten Preis von 15 Euro wirklich großartig und bleibt vor allem bis zum Ende spannend. Ein zweiter Krimi mit dem Ermittlerduo Goethe und Schiller ist vom Verlag bereits angekündigt.

Stefan Lehnberg:
Durch Nacht und Wind – Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe. Aufgezeichnet von seinem Freunde Friedrich Schiller
Klett Verlag 2017
237 Seiten
15 Euro


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert