Rezension: „Nicht der Roman ist tot, sondern der Leser“

Der Literaturnobelpreisträger und Holocaust-Überlebende Imre Kertész hat sein Leben lang Tagebuch geführt. Die Aufzeichnungen aus den Jahren 2001 bis 2009 sind nun in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschienen.

von David

Literatur produziert beim Leser oft ganz unwillkürlich Bilder im Kopf. Bei der Lektüre von Imre Kertész’ späten Tagebüchern dominiert das Bild einer düsteren, stickigen, unaufgeräumten und einsamen Wohnung, die geradezu von Staubschwaden durchzogen wird. Dies kommt nicht von ungefähr: Die 2000er Jahre sind für den ungarischen Literaturnobelpreisträger von Krankheit gezeichnet (unter anderem seiner eigenen – Parkinson), von Tod (der Vorahnung seines eigenen Verscheidens, aber auch realen Todesfällen unter Freunden und Angehörigen), von kreativer Krise und einer zunehmenden Entfremdung von Öffentlichkeit und Gesellschaft.

So werden die Tagebuch-Aufzeichnungen Zeugen von viel Verzweiflung und einigen wenigen Lichtblicken. Zu letzteren gehört die Verleihung des Nobelpreises im Herbst 2002 keineswegs. Als V. S. Naipaul ihn 2001 gewann, schrieb Kertész: „Ich war ausgesprochen erleichtert, als ich erfuhr, daß diese Glückskatastrophe nicht über mich hereingebrochen ist“. Ein Jahr später erfährt er die Ehre vor allem als eine sprunghafte Zunahme von Stress, als er plötzlich überall gefragt ist.

Die Aufzeichnungen dienen Kertész auch als Bewältigung einer Schreibenskrise, die mit seiner Parkinson-Erkrankung einhergeht. Der 73-Jährige kann nicht mehr wie üblich per Hand schreiben, und quält sich über Wochen mit einem Laptop, deren Funktionsweise er mühsam erlernen muss: „Gestern von morgens bis abends vergeblich an dem Apparat herumgearbeitet – ich komme nicht mit ihm zurecht. Aber diese zwei Tage haben mir wieder gezeigt, was ich bin, wenn ich nicht schreibe: nichts und niemand.“ Der Roman, an dem er arbeitet, will nicht so recht Form annehmen, und die Bestandsaufnahme des Ungarn zum Literaturbetrieb und seinem Publikum ist ernüchternd: „Nicht der Roman ist tot, sondern der Leser.“

Mit einer teils drastischen Sprache dokumentiert Kertész auch seine zunehmende und zunehmend irreversible Entfremdung von Ungarn. Irritiert beobachtet der Holocaust-Überlebende den zunehmenden Antisemitismus in seinem Heimatland und kann sich immer weniger der ungarischen Kultur verbunden fühlen. Als eine Schülergruppe in der ungarischen Provinz öffentlich Exemplare seines Roman eines Schicksallosen vernichtet, schlussfolgert er kurz und knapp: „Sich endgültig von Ungarn losreißen: eine Frage der Psychohygiene.“ Dies schrieb er 2002, während der ersten Ministerpräsidentschaft Viktor Orbáns. Was er zur zweiten in seinem Tagebuch schreiben würde, ist kaum auszudenken.

Die Desillusionierung Kertész’ tendiert immer wieder ins offen Suizidale. Doch manchmal wird auch das eine oder andere Fenster geöffnet, und warme Sonnenstrahlen erhellen das Bild der düsteren, stickigen Wohnung. Wenn etwa in einer Unterhaltung mit einem 13-jährigen Co-Passagier im Flugzeug kleine Gesten der gegenseitigen Wertschätzung ausgetauscht werden. Oder wenn ein Berliner Taxifahrer bei einem trivialen Gespräch über die Vorzüge der deutschen Hauptstadt seinen Kunden erkennt und ihm seine positive Einschätzung zum Galeerentagebuch mitteilt: „Eine schwere Lektüre, aber Sie scheinen ja heiter zu sein.“

Imre Kertész:
Letzte Einkehr. Tagebücher 2001-2009
rowohlt-Verlag 2013
464 Seiten
24,95 Euro

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