Rezension: „Sudelgeschichte“ reloaded

Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Erich Kästners Berlin-Roman über den Verfall der Weimarer Republik auf dem Weg in den Nationalsozialismus, erschien 1931 gekürzt. Unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel Der Gang vor die Hunde kann nun eine sexuell explizitere und politisch provokantere „imaginäre Erstfassung“ gelesen werden.

von David

Heinrich Mann, der Untergangs-Chronist des Wilhelminischen Kaiserreichs, bedankte sich 1931 begeistert bei Erich Kästner für seinen Roman Fabian. Ein relativ gesehen noch größeres „Kompliment“ erhielt der 32-jährige Schriftsteller vom Völkischen Beobachter: Dort wurde das Buch mit Worten wie „gedruckter Dreck“, „Schilderungen unmenschlicher Orgien“ und „Sudelgeschichte“ verrissen. Den Nazis reichte aber ein Verriss nicht: zwei Jahre später ließen sie unter dem Ruf „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat“ den Fabian öffentlich verbrennen – ein Spektakel, dem der Autor selbst beiwohnte. Was die Nazis nicht wussten: Sie hatten eine „geglättete“ Fassung verdammt und verbrannt.
Denn schon vor der Veröffentlichung wurde der Roman um den arbeitslosen Germanisten Jakob Fabian, der als teilnehmender Beobachter durch das „heiße“ Berlin der frühen 1930er Jahre streift, zensiert. Der DVA-Verlag ließ Kästner zahlreiche Passagen entschärfen und ganze Kapitel umschreiben und änderte den ätzenden, pessimistischen Titel, den der Autor vorgesehen hatte (Der Gang vor die Hunde) in Fabian. Die Geschichte eines Moralisten um.
Besonders zwei Teilkapitel fielen der Schere zum Opfer. In „Ein ehemaliger Blinddarm erregt Aufsehen“ zieht der Direktor der Werbeagentur, in der Fabian zu Beginn noch beschäftigt ist, im Arbeitszimmer sein Jackett, seine Weste, sein Hemd und sein medizinisches Korsett aus, um ihm und dem Kollegen Fischer eine entzündete Operations-Narbe am Bauch zu zeigen. Es ist vielleicht die bizarrste Stelle im ganzen Buch – ihre grafische Körperlichkeit und homoerotische Konnotation war den Lektoren des DVA-Verlags damals jedoch zu viel. Wenige Seiten später fehlte auch das Teilkapitel „Der empörte Autobus“, in dem Fabian und sein bester Freund Labude in einem Bus die Sehenswürdigkeiten Berlins persiflierend kommentieren und damit bei ihren Co-Passagieren für zornigen und schließlich handgreiflichen Unmut sorgen: Fabian nennt etwa den Dom „Hauptfeuerwache“, das Brandenburger Tor „Verkehrsturm“ und die „Pferdchen“ darauf „ein Denkmal für die letzten Droschken“.
Die derbe und nicht immer heteronormative Erotik von Der Gang vor die Hunde wurde bekanntermaßen nicht völlig für den Fabian getilgt, aber doch entschärft, vor allen Dingen durch die Auslassung einzelner Sätzen wie „Mir wuchs der Unterleib meiner Frau sozusagen über den Kopf“. Was heute fast schon altbacken und zahm klingt, wurde natürlich in einer Zeit geschrieben, in der auch D. H. Lawrences Lady Chatterleys Liebhaber den Zorn der Zensoren auf sich zog.
Der Gang vor die Hunde
präsentiert sich nun als der Roman, den Kästner ursprünglich für die Publikation vorgesehen hatte – als „imaginäre Erstausgabe“, so der Kästner-Spezialist Sven Hanuschek, der ihn anhand von Archiv-Manuskripten rekonstruiert hat. Auf einer rein textlichen Ebene ist dieser „Ur-Fabian“ wesentlich reicher und lebendiger als der schlussendlich veröffentlichte, inhaltlich aber genau so bedeutungsoffen und schwer greifbar. Die „reale“ Erstausgabe war nämlich auch trotz des Untertitels Die Geschichte eines Moralisten keine didaktische Lehreinheit, sondern ein satirisches Zeitbild voller loser Episoden, flirrender Eindrücke und flüchtiger Handlungen. Die Arbeitslosigkeit, das rauschvolle Nachtleben in den Clubs und Bordellen, die Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, die existentielle Verunsicherung – alles wird aus der Perspektive eines Protagonisten gesehen, der sich fast jeglicher Deutung entzieht: Ein Provokateur, der eigentlich nur in Ruhe gelassen werden möchte; ein krankhaft eifersüchtiger Liebhaber, der regelmäßig in den Puff geht; ein Beobachter der Zeit, der sich selbst gerne aktiv ins Getümmel stürzt; ein stolzer Germanist und militanter Pazifist, der zwischendurch rot sieht und sich in einer Universität prügelt; ein romantischer Träumer in einer ernüchternden Fleischerhaken-Realität. Und ein an die Vernunft appellierender Mahner vor dem drohenden Untergang, der am Schluss selbst auf die dümmste und lächerlichste denkbare Art untergeht.

Erich Kästner:
Der Gang vor die Hunde

Atrium Verlag
315 Seiten
22,95 Euro

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