Lahore und der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Vier Wochen nach den Selbstmordattentaten am Data-Darbar-Schrein ist es wieder ruhig geworden in Lahore, im nordöstlichen Pakistan. Als die Hitze des Tages schwächer wird, bahne ich mir wie viele andere den Weg ins Stadt­viertel Old Anarkali, nicht wissend, wen ich hier treffen werde.

eine Reiserezension von Christoph Borgans

Foto Unique-G-1Dort wird abends die Hauptstraße mit schweren Eisengittern für den Auto- und Rikscha-Verkehr gesperrt und Tische und Stühle neh­men den Platz der zäh dahinfließenden Blechmassen ein. Feuriges Linsen-Dhal, zartgekochtes Hammelfleisch oder scharfe Gemüsecurrys werden serviert und genüsslich mit den Fingern verspeist. Dabei und dazwischen Teehändler in kleinen Verschlägen, die schwarzen Tee mit Milch oder grünen mit Zitrone servieren. Ich setze mich an einen der wackeligen Holztische und bestelle: „Ek Tschai, zaraa”. Noch bevor ihn der Kellner auf den Tisch stellt, werde ich in ein Gespräch ver­wickelt: „Excuse me, Sir, but may I be of assistance? Ah, I see I have alarmed you. Do not be frightened by my beard: I am a lover of America. “

>Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Pakistan auf der Straße angesprochen werde. Westliche Besucher sind selten und hilfsbereites Nachfragen gebietet die Gastfreundschaft. Besonders in Old Anarkali ergeben sich immer wieder kuriose Situationen: Heute morgen wollte ein dicklicher Mann in braunem Hemd unbedingt meine Meinung zu „your great politician in World War II“ erfahren und die Sache mit dem Bart habe ich bereits gestern von einem hageren Alten gehört, der mal in Hamburg gelebt und mich ­sofort als Deutschen erkannt hatte.Diesmal werde ich also für einen Amerikaner gehalten. Erst will ich wider­sprechen, doch der Mann lässt mich kaum zu Wort kommen: „How did I know you were American? No, not by the color of your skin; we have a range of com­plexion in this country, and yours occurs often among the people of our northwest frontier“. Ich lasse ihm also in dem Glauben aus den Staaten zu kommen, was ihm wichtig zu sein scheint, denn dort – so sagt er – habe er studiert, mit Abschluss in Princeton. Spätestens ab jetzt hat der schwatzhafte Unbekannte meine Aufmerksamkeit. Er, ein Princeton­­-Absolvent? Mit seinem schwarzen Voll­­bart, dem wallenden Shalwar Kamiz und der Gebetskappe, sieht er so gar nicht aus, wie ein Pakistaner mit westlicher Ausbildung. Krawatte, Hemd und nicht zuletzt ein zu jeder Verschwendung ­bereiter Geldbeutel wären zu erwarten. Vor allem auch ein gewisses Maß an Veracht­ung für seine Landsleute, die in seinen Worten und im Umgang mit Bediensteten Ausdruck finden müsste. Doch all das fehlt bei diesem bescheidenen und zutiefst höflichen Mann ­mittleren Alters. Nach seinem summa-cum-laude-Abschluss verschlug es Changez – auch wenn er nie nach meinem Namen fragt, erfahre ich schließlich seinen – zu ­Underwood Samson, einer der weltweit führenden Unternehmensberatungen.  Foto Unique-Mg-1 Ehrgeizig, mit perfekten Manieren und einer sehr gewinnenden Art gelang es ihm nicht nur in der amerikanischen ­Elite-­Firma die Nummer Eins seines Jahrganges zu werden, sondern auch Erica, eine hübsche und kluge junge Frau aus reichem Haus zu gewinnen. ­Alles schien perfekt. Doch dann geschah, was die Welt aus den Angeln hob und auch an Changez nicht spurlos vorüber ging: Der 11. September. „I turned on the television and saw what at first I took to be a film. But as I continued to watch, I realized that it was not fiction but news. I stared as one – and then the other – of the twin towers collapsed. And then I smiled. Yes, despicable as it may sound, my initial reaction was to be ­remarkably pleased“. Wie bitte? Du hast gelächelt? Gerade im Begriff zu trinken, setzte ich meine Tasse wieder ab. Du, Changez, der erfolgreiche Emi­grant, gemäß dem amerikanischen Traum in der „meritocracy“  aufgestiegen, die Taschen voll Dollar und mit Haut und Haaren vernarrt in eine amerikanische Frau, Du Changez, hast gelächelt? „But at that moment, my thoughts were not with the victims of the attack – death on television moves me most when it is fictious and happens to characters with whom I have built rela­tionships over multiple episods – no, I was caught up in the symbolism of it all, the fact, that someone had so visibly brought America to her knees.” Selbst erschreckt über diese Empfindungen, versuchte Changez sie vor sich und seinen amerikanischen Freunden zu verstecken. Aber es gelang ihm nicht mehr zur Normalität zurückzukehren. Im ­­­Post-9/11-Amerika gab es plötzlich wieder ­einen Unterschied ­zwischen einem ­weißen Unternehmens­berater mit christlich-europäischen Wurzeln und einem pakistanischer Abstammung. Und Changez selbst begann sich durch seine amerikanische Sonnenbrille als Fremden zu betrachten. Seine Glaubensbrüder, die plötzlich von den Medien zu Dämonen stilisiert wurden, die ameri­kanische Ein­mischungspolitik in Pakistan und Changez‘ wachsender Ekel vor der gewissen­losen Herrschaft des Geldes machten es ihm immer schwerer, noch der Amerikaner zu sein, der er ­eigentlich sein wollte.
Während sich die Dämmerung vom staubigen Rand der Stadt erhebt, um ihr blauschwarzes Zelt über unseren Köpfen zu schließen, steigen Fledermäuse auf und beginnen ihre Jagd auf die zahllosen Motten im Licht der englischen Straßenlaternen. Changez’ Geschichte fasziniert und erschreckt mich zugleich. Doch ­wieso erzählt er mir das alles? Immer häufiger fallen Anspielungen auf den amerikanischen Geheimdienst. Für wen hält er mich? „I no­­ticed that you were looking for something, more than loo­king, in fact you seemed to be on a mission …“ Und was denkt wohl der Kellner, der nun schon zum dritten Mal den Nachbartisch abwischt? Was wollen mir seine zugekniffenen Augen sagen? „I observe, Sir, that there continues to be something about our waiter that puts you ill at ease. I will admit that he is an intimidating chap, but if you should sense that he has taken a disliking of you. I would ask you to be so kind as to ignore it; his tribe merely spans both sides of our border with neighboring Afghanistan, and has suffered during offensives conducted by your countrymen.”  Spätestens jetzt wird es unangenehm.
Nur gut, dass ich – im Gegensatz zu den Gesprächen der letzten Tage – diesmal nur den Buchdeckel zuklappen muss und schon ist das Gespräch beendet. Denn Changez ist lediglich eine Figur des ­pakistanischen Autors Mohsin Hamid. Zugegeben: eine nicht unrealistische Figur in einer sehr realistischen Um­gebung. Hamids Erzählung „The reluctant fundamentalist“ (dt.: „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“)­ ­spielt eben hier im Viertel ­Old Anarkali in Lahore, wo ich gerade meinen Tee trinke. Genau hier erzählt Changez einem Fremden – dem Leser, mir – sein Leben. Und auch alles, was sich um ihn und den unbekannten Amerikaner herum abspielt, berichtet nur die Stimme ­Changez’. Der zwei­hundertseitige Monolog ist aber weder eintönig noch stört es, wenn er stellenweise ein wenig künstlich wirkt. Vielmehr trägt gerade diese ungewöhnliche Erzählform dazu bei, die Spannung aufrecht zu erhalten. Die Fragen, wer die Beiden wirklich sind und was hier gespielt wird, bleiben ­lange ebenso ungeklärt wie jene nach den Gründen der Metamorphose wider Willen und  „The reluctant fundamentalist“ wird so zu einem wahren Pageturner.
Mohsin Hamid, der in Lahore auf­gewachsen ist und nach seinem Besuch der Princeton University mehrere Jahre als Unternehmensberater in New York gearbeitet hat, kennt nicht nur die Orte und das Umfeld, sondern weiß auch die Spannung widersprüchlicher Gefühle nach­vollziehbar darzustellen. Der Leser taumelt mit Changez zwischen Wollen und Nicht-Können, zwischen Heimat und Fremde, Liebe und Ekel. Zwar mag man, ebenso wie Mohsin Hamid, Changez‘ Schlüsse nicht teilen, aber wie es ihn auf diesen Weg getrieben hat, wird nacherlebbar.
Der Zustrom zu den Neo-Taliban oder anderen islamisch extremistischen Gruppen lässt sich eben nicht monokausal mit religiösem, unheilbarem Fanatismus erklären, sondern muss differenzierter betrachtet und nachvollzogen werden. ­Hamids Buch hat in Bezug auf islamischen Fundamentalismus eine ähnlich erhellende Wirkung wie einst „Die Welle“ bzgl. der Funktion totalitärer Systeme oder Goldings „Herr der Fliegen“, was die Entstehung und Dynamik von Gewalt betrifft und kann daher dem koranzündelnden Terry Jones und seinen extremistischen Kumpanen nur empfohlen werden.

ReluctantFundamentalist_covMohsin Hamid:
The Reluctant Fundamentalist.
Penguin Books 2008,
192 Seiten, 9,50 €
(Originalsprache, empfohlen!)

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Heyne Verlag 2008,
192 Seiten, 8,95 €
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Diese Reiserezension entstand während einer zweimonatigen Tramp- und Wanderfahrt durch Pakistan im Sommer 2010.

Kommentare

Eine Antwort zu „Lahore und der Fundamentalist, der keiner sein wollte“

  1. Avatar von Christoph
    Christoph

    Tolle Rezension eines großartigen Buches. Man merkt die Begeisterung des Verfassers an der Liebe, die er in diesen Text gesteckt hat. Schön, dass er durch das Internet öffentlich gemacht wurde!

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