Reclaim your Brain!
Der Traum vom braven Schüler ist ausgeträumt

von Carola

Bildung – das sollte im Idealfall bedeuten: frei, unabhängig, für alle zugängig und – vielleicht das wichtigste Kriterium – zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit beitragend, auf dass der Mensch selbstbestimmt und bewusst leben und an der Gesellschaft teilhaben kann. Doch wirft man einen Blick auf die heutige Situation, so lässt sich feststellen, dass da wohl irgendetwas fehlt; eigentlich alles, um genauer zu sein.
Die Ökonomisierung der Bildung ist Normalfall, selbst die OECD attestierte, dass in Deutschland in einem Maße wie in fast keinem anderen Industrieland die Bildungschancen vom finanziellen Status des Elternhauses abhängen. Das bedeutet, dass die wirtschaftlich starken Eliten sich selbst reproduzieren, während die soziale Unterschicht unten bleibt.

Das dreigliedrige Schulsystem bedeutet soziale Selektion
Schon in der Grundschule fängt es an. Das dreigliedrige Schulsystem führt dazu, dass bereits nach der vierten Klasse, durch die Frage, wer aufs Gymnasium gehen wird und wer nicht, eine soziale Selektion stattfindet. Durch die Einteilung in „geeignet für weiterführende Bildung“ und „nicht geeignet“ wird die spätere Position des Kindes in der Gesellschaft schon entscheidend mitbestimmt. Und so überrascht es kaum, dass lediglich ein geringer Anteil der Gymnasialschüler und späteren Studierenden aus sozial schwachen oder Arbeiterfamilien stammt.
Doch auch nach dem Abitur schlägt die soziale Selektion mit voller Härte zu: Durch die Einführung von Studiengebühren in vielen Universitäten deutschlandweit wird das Studium nochmals vom sozioökonomischen Status des Studierwilligen anhängig, zumal durch die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge und die damit einhergehende Straffung des Studiums kaum Zeit zum Jobben nebenher lässt. So belegt eine Studie, dass 22 Prozent der zum Studium Unentschlossenen sich von Studiengebühren abschrecken lassen.
Waren Universitäten traditionell die Orte, aus denen revolutionärer Geist entsprang, sind es heute die Orte, aus denen die angepassten Lämmer trotten, um ein neues Rädchen im Getriebe zu werden. Sicherlich gibt es Ausnahmen, doch der Trend geht eindeutig in diese Richtung und ist auch so gewollt. Wie lässt es sich sonst erklären, dass der neoliberale Umbau der (Hoch)Schulen mit immer mehr in die Höhe schnellendem Leistungsdruck stetig voranschreitet, dass den Studierenden immer mehr Partizipationsrechte entzogen werden, dass die Universitäten sich immer mehr in Richtung profitorientiertes Dienstleistungsunternehmen entwickeln und dass die staatlichen Zuschüsse zur Bildung regelmäßig gekürzt werden?

Die „Bildungsrepublik“
Aufgrund massiver Proteste im Sommer rief Bundeskanzlerin Merkel für das Jahr 2008 die Bildungsrepublik aus. Infolge dessen besuchte sie Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland. Die Bemühungen der Bundesregierung gipfelten dann im Bildungsgipfel am 22. Oktober, der allerdings unter Ausschluss der Betroffenen, nämlich der Schüler und Lehrer, stattfand. Als großzügige Geste wurden 25 Milliarden Euro Mehrinvestitionen ins Bildungssystem versprochen – ab 2015. Wenn man einen Blick auf die Rettungspakete für angeschlagene Banken wirft, wirkt dies wie ein Bonbon, das dem nörgelnden Kind gegeben wird, damit es doch endlich Ruhe gibt.
Doch diesmal lassen sich die Schüler und Studierenden nicht so einfach abspeisen: Bereits am 22. Mai fanden in zehn deutschen Städten großangelegte Schulstreiks statt, in Berlin protestierten bis zu 30.000 Schüler, Studenten, Eltern und Lehrer gegen die „Bildungsmisere“. Parallel zum Bildungsgipfel fand ein selbstorganisierter Alternativgipfel statt, auf dem Vorstellungen darüber, wie Bildung aussehen sollte, diskutiert wurden.

Weltweiter Protest
Doch nicht nur Deutschland ist betroffen. Überall regt sich Protest gegen die Tendenz. So wurde am fünften November der „Global Action Day for Education“ unter der Parole „One World – One Struggle, Education is NOT for Sale!“ ausgerufen. In vielen Ländern weltweit, zum Beispiel Liberia, Bangladesh, Kanada, Irland, Deutschland, Kroatien, Kolumbien, Türkei, Österreich und Bulgarien, wurde an diesem Tag protestiert, das Repertoire reichte von Film- und Theatervorführungen über Demonstrationen und Besetzungen von Schulen und Universitäten bis hin zu kreativen Aktionen.
Auch ein Blick nach Italien lohnt sich, in dem seit September die Jugend rebelliert. So fanden im Oktober nach offiziellen Angaben mindestens 300 Demonstrationen statt (die größten davon in Rom mit teilweise bis zu 1.000.000 Menschen), mindestens 200 Schulen und Fakultäten wurden besetzt, andere Schätzungen gehen weit höher. Der Stein des Anstoßes ist ein Dekret, das die italienische Bildungsministerin Mariastella Gelmini erlassen hat, welches unter anderem vorsieht, bis zu 133.000 Stellen im administrativen Schulsektor einzusparen. Außerdem sind zahlreiche Kürzungen auch an Universitäten ge-plant, die dann mittels Studiengebühren wieder beglichen werden sollen. Weiterhin sollen die Schüler Schuluniformen tragen und in Zukunft wegen schlechten Benehmens sitzenbleiben können. Die faschistische Lega Nord setzte noch einen drauf und schlug vor, Migrantenkinder in separaten Schulklassen zu unterrichten. Dementsprechend lautet dann auch das Motto der Proteste: „La 133 arresta la fuga dei cervelli: non ne rimarrà uno“ („Das Gesetz 133 stoppt den „Braindrain“: es wird kein Gehirn mehr da sein“).
Doch nicht nur der Staat macht es den Protestierenden in Form von Polizeigewalt und Repression schwer. So versuchen faschistische Studentengruppen wie Blocco Studentesco und Casapound, die Leitung der bisher wilden und ungeführten Revolte an sich zu reißen oder zumindest Querfronten zu bilden, was regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. So geschehen in Mailand und Rom.

Bundesweiter Schulstreik in Deutschland
In Deutschland hingegen wurde am 12. November ein bundesweiter Schul- streik vom Bündnis „Bildungsblockaden einreißen“ ausgerufen, an dem sich in etwa 40 Städten zwischen 100.000 und 125.000 Menschen beteiligten. Die größten Aktionen fanden in Braunschweig und Berlin statt, aber auch in kleineren Städten gingen die Schüler – unterstützt von Gewerkschaften und Studierenden – auf die Straßen und ließen ihrer Wut über die schlechten Zustände im deutschen Bildungssystem teilweise freien Lauf. So wurde beispielsweise das Hauptgebäude der Humboldtuniversität in Berlin kurzfristig von bis zu 2000 Demonstrierenden besetzt, in Dresden und Hannover wurde versucht, die Landtage zu stürmen und in Erfurt erzwangen die Schüler durch die Besetzung des Schulamtes das Versprechen, dass der Beteiligung am Streik keine repressiven Maßnahmen folgen werden, wie im Vorfeld angekündigt. Und Repression gab es zuhauf: Nicht nur die Schulen und Bildungsministerien drohten im Falle der Teilnahme am Streik den Schülern Disziplinarmassnahmen an, auch die Polizei ging in gewohnter Weise grob und teilweise brutal gegen die Demonstrationen vor. So sollen in Hannover gegen Kinder Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt worden sein.

Was bleibt?
Neben den Blessuren und dem Stolz über die vielleicht erste politische Aktion bleibt also auch hoffentlich noch etwas hängen: Nämlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmen kann im System, wenn es massive Gewalt einsetzt, um recht harmlose Proteste zu unterdrücken. So kann aus dieser Welle eine wirkliche soziale Bewegung entstehen, die ihre – wenn wir ehrlich sind – recht naiven Forderungen, wie „Mehr Lehrer“ und „Kleinere Klassen“, Abschaffung des zwölf-klassigen Turbo-Abiturs und die Rücknahme von Schul- und Büchergeldern, die letztlich doch nur Symptombekämpfung sind, in Richtung einer ernsthaften Gesellschaftskritik überdenkt. Bleibt also zu hoffen, dass das Motto des alternativen Bildungsgipfels noch lange anhält: „Reclaim your brain!“


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