Plädoyer fürs Lügen

© Juan Malte Haußen

Bei moralischen Fragen heißt es als Erwiderung gern: „Was hätte Kant getan?“. Nicht immer aber kann man sich auf den großen Philosophen verlassen. Warum Höflichkeit eine Lüge ist und bleiben sollte.

von Dennis

Eine barbarische Gesellschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass kultivierte Lügen nicht akzeptiert werden. Wenn beim Begrüßungsritual auf das ‚Hallo!‘ ein ‚Wie geht’s?‘ folgt und mein Gegenüber mit ‚Ach, geht so…‘ antwortet, dann denke ich gern an Jean-Paul Sartres Text, das den schönen Titel Die Hölle, das sind die anderen trägt. In diesem Moment will ich natürlich nicht wissen, wie es dem anderen wirklich geht! Ich will nur wissen, ob er bereit ist, bei einem Spiel mitzumachen; dieses Spiel heißt im Allgemeinen Kultur, in diesem konkreten Fall Höflichkeit.

Das ist doch ein Paradox: Sozialität wird hergestellt, indem ein Mitmensch gerade nicht wortwörtlich ernstgenommen wird. Wichtiger dabei ist nämlich nicht unbedingt der Inhalt, sondern der Kontext oder die Form, was man auch in die inhaltliche Aussage und in die ebenso bedeutungstragende Aussageposition unterscheiden könnte. Eine solche Bedeutungsebene jenseits des Ausgesagten nennt man in der Alltagssprache ‚zwischen den Zeilen‘ oder ‚ungeschriebene Gesetze‘. Und so geht das Paradox in die nächste Runde: Indem man etwas augenscheinlich Unhöfliches tut – den anderen nämlich nicht ganz ernst zu nehmen –, etabliert man überhaupt erst Höflichkeit. Der Soziologe Niklas Luhmann formulierte die für die Psychoanalyse zentrale Einsicht so: Die Hauptaufgabe des Bewusstseins liege vor allem im Vergessen und nicht im Erinnern oder Wahrnehmen. Würde man stets alles bewusst wahrnehmen, was rein biologisch wahrzunehmen möglich wäre, dann würde man irre werden. Das gilt auch für das Soziale: Würde man stets den Anderen in seiner Ganzheit nehmen, könnte sich keine Sozialität herstellen. Unter anderem deshalb gibt es sowas wie Knigge, Höflichkeitsregeln, die es uns erlauben, eine zwar vorgetäuschte, aber nicht weniger gute Ignoranz walten zu lassen.

Dass eine Lüge auch mal Gutes bewirken kann, dafür kennt jeder Beispiele. Bei der Verknüpfung von Lüge und Gutem kommt man um Immanuel Kant nicht herum. Im Jahre 1797 ist ein eigentümliches Gespräch zwischen Kant und Benjamin Constant entstanden. Constant schrieb in seinem Text Desréactions politiques (1797):

Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.

Auch wenn Kant kein einziges Mal dieses Mörder-Beispiel bemühte, fühlte er sich sofort angesprochen und erwiderte mit seinem Text Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797). Darin versucht Kant das Sagen der Wahrheit als unbedingte und unumstößliche Pflicht zu verteidigen. Er meint sogar, in diesem konkreten Mörder-Beispiel wäre jemand, der die Wahrheit sagt, nicht verantwortlich für den Tod des Freundes. Hier hat Kant natürlich seine Schwächen, aber nicht, weil er in der Erwiderung an Constant zu radikal wäre, sondern weil er sich selbst untreu wird. Wir alle kennen Kants kategorischen Imperativ aus der Schule. Die wohl bekannteste Formulierung lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wie man sieht, beinhaltet er keine konkreten ‚Regeln‘ oder ‚Verbote‘. Der kategorische Imperativ nach Kant ist strenggenommen nur das, was sich das moralische Subjekt zur Pflicht macht. Wenn Kant also so tut, als wäre das Sagen der Wahrheit bereits einer universellen Ethik-Prüfung unterzogen worden, dann widerspricht Kant seiner eigenen Argumentation in seinem zweiten großen Werk Kritik der praktischen Vernunft.

Bisher habe ich vor allem behauptet, Höflichkeit bestünde darin, den anderen nicht allzu ernst zu nehmen. Der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Mladen Dolar stellt in seinem Essay The Art of the Unsaid (unveröffentlichtes Manuskript) eine Erweiterung dieser Logik vor:

Das Befolgen von Höflichkeitsregeln reicht niemals ganz aus, was nötig ist, ist Takt. In einem frühen Truffaut-Film gibt es eine wunderbare Szene, in der Delphine Seyrig, eine femme du monde, dem jungen Jean-Pierre Léaud den Unterschied zwischen Höflichkeit und Takt beizubringen versucht: „Stellen Sie sich vor, Sie betreten versehentlich ein Badezimmer und sehen eine nackte Frau unter der Dusche. Die Höflichkeit gebietet es, schnell die Türe zu schließen und zu sagen: Pardon, Madame! Takt wäre es dagegen, die Türe zu schließen und zu sagen: Pardon, Monsieur!“ In beiden Fällen herrscht Achtung vor der anderen Person und deren Intimsphäre, in die man unwillentlich eingedrungen ist, und dies erfordert eine höfliche Entschuldigung. Im ersten Fall wird den Regeln Genüge getan. Im zweiten jedoch tut man mehr: Man gibt vor, nicht gesehen zu haben, man tut so, als ob das Eindringen so marginal gewesen wäre, dass man nicht einmal das Geschlecht der entblößten Person erkennen konnte, und selbst wenn die unglückliche Dame genau weiß, dass man nur so tut, wird sie diese Mühe sehr wohl zu schätzen wissen.

Der Schritt von der Höflichkeit zum Takt wäre demnach, nicht nur den anderen nicht ganz ernst zu nehmen, sondern zusätzlich auch sich selbst nicht ganz ernst zu nehmen. Eine mögliche Definition der kultivierten Lüge wäre folgende: Eine kultivierte Lüge ist eine notwendigerweise auf faktische Wahrheit verzichtende Kommunikationsform, die vermag, jenseits des Buchstäblichen produktive, also vertrauensbildende Sozialität herzustellen. Daher fordere ich: Lügt mehr (kultiviert)!


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