„Organisierte Verantwortungslosigkeit“

Die Räumlichkeiten des Förderzentrums mussten entkernt werden (Foto: privat)

Bosnien erlitt Anfang 2014 schwere Flutschäden ­– nicht nur materiell, sondern auch politisch. Ein Jenaer Doktorand berichtet von seinen Eindrücken und die unique sprach mit dem Thüringer Georg Schiel, der sich vor Ort für behinderte Menschen einsetzt.

unique: Herr Schiel, das Förderzentrum für Menschen mit Behinderung in Maglaj existiert seit 2006. Wie ist generell die Situation behinderter Menschen in Bosnien und Herzegowina?
Schiel: Menschen mit Behinderung werden entweder in ihren Familien untergebracht, die sie beschämt vor der Gesellschaft behüten oder gar verstecken, oder aber in große und überfüllte psychiatrische Einrichtungen eingewiesen, wo sie lediglich medikamentös ruhig gestellt werden. Deshalb sind solche Einrichtungen wie das Zentrum in Maglaj Hoffnungsinseln und umso bitterer ist es, dass es durch das Hochwasser total zerstört wurde.

Wie wurde das Zentrum von den Anwohnern in Maglaj aufgenommen?
Als wir vor zehn Jahren mit der Arbeit anfingen, haben wir auf einer ehrenamtlichen Initiative der Sozialamtsleiterin in Maglaj aufgebaut, die mit einigen behinderten Kindern einmal pro Woche eine Stunde kreative Arbeiten gemacht hat. Mit Mitteln aus dem Strukturpaket für Osteuropa und der Stiftung „Schüler helfen leben“, haben wir dann 2006 diese Einrichtung übernommen. Seit etwa Anfang 2009 finanziert sich das Zentrum ausschließlich aus bosnischen Mitteln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben es auch wirklich geschafft, das Zentrum zu einem integralen Bestandteil der Gemeinde Maglaj zu machen.

Gab es nach der Flut auch entsprechende Solidarität von Seiten der Bevölkerung?
Da war jeder erst einmal mit sich selbst beschäftigt. Aber es gab viel Solidarität aus anderen Gemeinden, die nicht oder wenig von der Flut betroffen waren. Außerdem konnten wir Übergangsräumlichkeiten in einer Grundschule finden. Wir können sehr dankbar sein für die Unterstützung der freiwilligen Helfer und für die Spenden in Form von Unterrichtsmaterialien, Mobiliar und so weiter.

Haben Sie auch Hilfe seitens der bosnischen Behörden bekommen?
Wir als Einrichtung haben überhaupt keine Hilfe bekommen. Es wurde viel geredet, aber wirkliche Hilfe für die vielen Menschen, die ihre Häuser verloren habe, gab es kaum. Wenn etwas passiert ist, dann ist das meist auf Betreiben der Europäischen Union erfolgt.

Lag das an mangelndem Willen oder eher mangelnden Kapazitäten?
Die Behörden sind mit solch einer Katastrophensituation vollkommen überfordert. Es ist dann klar, dass die organisierte Verantwortungslosigkeit, die die Strukturen in Bosnien und Herzegowina prägt, nicht dazu funktionieren kann, um in solch einer Situation den Menschen zu helfen. Hinzu kommt die katastrophale Situation der öffentlichen Haushalte – es hatte eigentlich auch keiner vor Ort finanzielle Hilfe von den Behörden erwartet.

Denken Sie, dass durch die Flut und die Proteste etwas in der Gesellschaft in Bewegung geraten ist?
Wenn man nach der Flut etwa mit ausländischen Korrespondenten gesprochen hat, waren sie voller Bewunderung: „Diese Leute stecken den Kopf nicht in den Sand, sondern versuchen, ihre Lage zu verbessern.“ Nun, die Menschen hier sind es gewohnt, zu improvisieren – das ist ein Bestandteil ihres Alltags. Was die Proteste angeht, die sich ja unabhängig von der Flut gegen die gesellschaftlichen Zustände gerichtet haben: Ob sich an diesen in den nächsten Jahren etwas ändern wird, das wage ich, nach all meinen Erfahrungen vor Ort, zu bezweifeln.

Herr Schiel, wir danken Ihnen für das Gespräch.


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