Pesto, Palazzi und Piano – Wie ich lernte, Genua (doch) zu lieben

von Luth

Das Land, das im Herbst 2005 meine vorübergehende Heimat werden sollte, schien mir vertraut. Die klassischen Urlaubsziele hatte ich als kultur- und sonnenhungriger Mitteleuropäer im Laufe meines touristischen Curriculums längst abgehakt. Nun also drei Monate Auslandspraktikum im Goethe-Institut Genua. Mit dem Namen der Stadt konnte ich wenig anfangen. Sampdoria sagte mir was, der Fußballverein. „Alles klar auf der Andrea Doria“, Udo Lindenberg, schon mal gehört. Danach erstmal Leere. Genua? Ich war einigermaßen enttäuscht. Wenn schon nicht Venedig, Florenz oder Rom, dann bitte wenigstens eine andere italienische Kulturmetropole europäischen Formats. Stattdessen das …

Auf Genua angesprochen verriet meine Oma, sie sei vor etlichen Jahren dort gewesen – für etwa eine Stunde. Die Stadt hätte sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Tatsächlich legen die meisten Touristen in Genua nur einen kurzen Zwischenstopp ein. Tags und nachts rollen im Porto Antico, dem alten Hafen, Reisebusse aus dem Norden auf Fähren nach Sardinien und Korsika. Schlafend in ihren Sitzen hängend, bemerken viele Insassen diesen Transit nicht einmal.

Epizentrum der Anti-Globalisierungsbewegung für drei Tage

Im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit stand Genua zuletzt 2001. Vom G8-Gipfel blieben wüste Straßenschlachten, der tot in der Via Caffa liegende Demonstrant Carlo Guliani und rücksichtslos vorgehende Sondereinheiten der römischen Polizei (in der letzten Gipfelnacht hatten sie die Scuola Diaz gestürmt) in Erinnerung. Drei Tage war die Stadt das Epizentrum der Anti-Globalisierungsbewegung, die am Ende endlich ihren ersten Märtyrer beklagen durfte.

Weniger aufregend las sich mein Reiseführer: Genua ist der Geburtsort von Christoph Kolumbus. Aha, er war also doch kein Spanier. Auf der Landkarte beginnt die Suche nach Genua am besten bei Mailand. Durch die Po-Ebene und über den Apennin hinweg fährt der Finger nach Süden. Wo das Festland endet und das Mittelmeer beginnt, liegt sie, die Hauptstadt Liguriens, am Scheitelpunkt der italienischen Riviera. Ich fuhr mit dem Münchner Nachtzug hin.

Sampdoria sagte mir was, der Fußballverein

In den ersten Tagen wurden meine schlimmsten Befürchtungen nicht bestätigt. Sie wurden übertroffen. Gewöhnt an die Postkartenidyllen früher Italientouren erschien mir Genua als abstoßender, geradezu monströser Moloch. Am Hauptbahnhof begrüßte mich ein wuchtiges Kolumbus-Denkmal. Es war über und über mit Taubendreck besudelt. So lieblos geht man hier also mit Lokalhelden um, dachte ich. In den engen Altstadtgassen standen sich die Prostituierten selbst am helllichten Tage die Beine platt. Allgegenwärtiger Verfall, wilde Müllhalden und bissiger Uringestank – wohin ich auch lief. Die Dritte Welt mitten in Europa, das durfte doch nicht wahr sein!

In Supermärkten sah ich mich gleichzeitig mit Lebensmittelpreisen konfrontiert, die ich eher in Sankt Moritz verortet hätte (preiswerte Alternative: Wochenmärkte). Mein Vermieter kassierte in bar, die Frage nach einem Mietvertrag verstand er nicht – inhaltlich. Um mich zu beruhigen, lief ich die Via San Lorenzo zum alten Hafen hinunter. Dort erschlug mich die in Hochlage geführte Stadtautobahn. Die selbst von Einheimischen wenig geliebte Sopraelevata ist Genuas städtebaulicher Sündenfall. Von Westen dröhnte der Lärm der Werftindustrie herüber. Der erhoffte Mittelmeerblick war durch endlose Containerterminals, Kaimauern und Fährschiffe brutal verstellt. Ergebnislos verlief auch meine Suche nach öffentlichen Grünflächen. Ruhe und Entspannung fand ich erst später in der Peripherie Genuas, in den Parkanlagen von Boccadasse, Pegli und Nervi.

Zwischenstopp für Kreuzfahrttouristen – Der Hafen als Nadelör zur Außenwelt

Im Genueser Straßenverkehr gelten wie überall in Italien die ungeschriebenen Gesetze des machismo, akuter Platzmangel verschlimmert die Situation zusätzlich. Ein unübersichtliches Gewirr mittelalterlicher Gassen (carruggi), steiler Treppen (creûse), kurvenreicher Straßen und Tunnel durchzieht die Stadt. Unterirdisch gleicht sie einem Schweizer Käse, auch oberirdisch werden selbst abenteuerliche Hanglagen verbaut. Erkennbar wird dafür selten eine Baugenehmigung eingeholt. Viertel wie Castelletto, Righi oder Granarolo erreicht man bequemer mit Standseilbahnen (funicolari) oder Aufzügen (ascensori) als mit dem Auto. Und obwohl ich das elitäre Gefühl, in Genua als Radfahrer unterwegs zu sein, doch irgendwie genoss, war es bei näherer Betrachtung nur masochistische Quälerei – eine nicht ungefährliche dazu.

Um unnötigem Heimwehblues vorzubeugen, ging ich auf Reisen. Das Praktikum war ohnehin nur Mittel zum Zweck, tot arbeitete ich mich nicht. Zug fahren ist in Italien recht erschwinglich, selbst mit kleinem Portemonnaie legt man große Distanzen zurück. Die Bahnangestellten sind chronisch unterbezahlt und daher allzeit streikbereit, die Züge uralt und auch gern mal läuseverseucht. Selbst brennende Sitze sind für italienische Schaffner kein hinreichender Grund, gleich den ganzen Zug anzuhalten.

An der Riviera entlang fuhr ich in die Winterquartiere der Schickeria wie San Remo, Monte Carlo und Rapallo, in die weltberühmten „Fischerdörfer“ der Cinque Terre, in pittoreske Ortschaften wie Finalborgo, San Fruttuoso, Camogli und Portovenere. Deren äußeres Erscheinungsbild ist ohne Zweifel makellos. Gleichzeitig gab das allgemeine Gedränge eine Vorahnung davon wie unausweichlich und nah ihr massentouristischer Erstickungstod ist. Attraktiver erschien mir bald das Hinterland von Genua. Mit der Casella-Schmalspurbahn fuhr ich in die bis zu 1800 Meter hohen, nahezu menschenleeren Berge und unternahm ausgedehnte Wanderungen. Genuesen fänden das mindestens exotisch. In ihrer Wahrnehmung ist der ligurische Apennin so weit entfernt wie Downtown Manhattan von einem Farmerdorf in Iowa. Genuas Nadelöre zur Außenwelt sind der Hafen und die Küstenautobahn, die Hillbillies jenseits der nördlichen Stadtgrenze werden ob ihrer vermeintlichen Rückständigkeit bemitleidet.

Verschwenderische Pracht hinter altersmüden Fassaden

Der allwöchentliche Exodus war auf Dauer jedoch keine Lösung. Ich stellte mich der Stadt. Allmählich entdeckte ich La Superba („die Stolze“), wie Genua von ihren Bewohnern wenig bescheiden genannt wird. Im Mittelalter befuhren genuesische Schiffe alle bekannten Weltmeere, später avancierte die Stadt zur wichtigsten Finanzmetropole Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der massive wirtschaftliche Niedergang. Viele Werften gingen zugrunde, die Einwohnerzahl sank kontinuierlich.

Genuas grandezza und bellezza verblich. Der alte Glanz offenbart sich heute nur dem entdeckungswilligen Betrachter. Charakteristisch fürs Stadtbild sind Palazzi, deren verschwenderische Pracht sich hinter altersmüden Fassaden verbirgt. Gestaunt werden darf im Inneren umso mehr. Auch dass Genua über das größte zusammenhängende Altstadtgebiet Europas verfügt, registrierte ich erst, als ich dort hungrig marodierend eine günstige Dönerbude suchte. Und wer weiß schon, dass Genua 2004 europäische Kulturhauptstadt war und mit dem Teatro Carlo Felice einen Kulturtempel von nationaler Bedeutung vorweisen kann? Wirklich beeindruckend ist der Cimitero monumentale di Staglieno, auf dem sich der in steinerne Monumentalgräber gehauene Bestattungspomp des ausgehenden 19. Jahrhunderts besichtigen lässt.

„Baci, baci“ – Infantiles Paarungsverhalten weit jenseits deutscher Peinlichkeitsgrenzen

Was das Leben anging, hielt ich mich an deutsche Mitpraktikanten. Das genuesische Clubspektrum sprach uns mit Ausnahme des Milk Clubs nicht an. Also besuchten wir Privatparties von Italienern mit ihren Koch- und Fressorgien voll lauter Geselligkeit und oberflächlichem Smalltalk. Das Paarungsverhalten zu Tische war südländisch, d. h. infantil weit jenseits deutscher Peinlichkeitsgrenzen. Gelegentlich wurde Liedgut zum Besten gegeben – Trallalero-Gesang gilt neben Pesto Genovese als lokale Spezialität. Das Praktikum verlief weitgehend ereignislos. In den vielen Espressopausen mit der redseligen Putzfrau verfeinerte meine Italienisch-Kenntnisse. Versüßt wurde die Arbeit zudem durch Zusammentreffen mit so illustren Gestalten wie Blixa Bargeld, Martin Walser und Eberhard Weber. Ansonsten halt tröge Selbstverwaltung eines deutschen Kulturinstituts im Ausland …

Venezianische Dekadenz und neapolitanisches Chaos

Genua wird auch zukünftig nicht zum Kanon klassischer Italienreiseziele gehören. Massentourismusgeschädigte, Toskana-Überdrüssige und Anhänger maroden Charmes erwartet hier ein wirklichkeitsnahes Alltagspanorama einer so maritimen wie unprätentiösen italienischen Industrie- und Hafenstadt. Möchte man ein konkretes Bild bemühen, so summiert sich hier venezianische Dekadenz und neapolitanisches Chaos zu etwas ganz Eigenem. Ältere Genuesen sind auf sympathische Weise verschlossen, rau und schwermütig. Italiener meiner Generation entsprachen weitgehend den Klischees, die Deutsche von ihnen haben. Das hat mich aber weder überrascht noch enttäuscht. Überhaupt half mir Genua, überzogene Erwartungen an Italien und einen Auslandsaufenthalt der Realität anzupassen. In der Ferne ist man wunderbar frei und doch auch gefangen. Zufrieden mit dieser Erkenntnis und ein wenig verliebt fuhr ich zurück in die Heimat.


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