Alien(ation), Acid & Apocalypse

Gregg Araki gilt als einer der wichtigsten Regisseure des „New Queer Cinema“. Protest gegen die Unterdrückung homosexueller Lebensentwürfe, problematische Liebe und das Ende der Welt sind die Themen dieser Independent-Filmbewegung.

von David & LuGr

FUCK THE WORLD – das ist das Lebensmotto des Vagabunden und Gelegenheitsstrichers Luke. Nachdem er ein Trio gewaltbereiter Neonazis in Notwehr tötet, begegnet er auf seiner Flucht dem desillusionierten Filmkritiker Jon, der wie er HIV-positiv ist. Die beiden werden ein Liebespaar. Auf der Suche nach Befreiung von sozialer Verachtung ziehen sie in eine rebellische, (selbst-)zerstörerische und gewalttätige Auto-Tour durch Kalifornien.
Das Kino ist tot – lang lebe das Kino: Mit The Living End drehte Regisseur Gregg Araki 1992 einen Meilenstein des „New Queer Cinema“, einer Bewegung des Independent-Films, die nicht mehr nur dem Studiosystem, sondern auch dem Umgang der US-amerikanischen Gesellschaft mit schwul-lesbischen Lebensentwürfen eine cineastische Ohrfeige versetzte. Nicht mehr die heterosexuellen Gangster Bonnie und Clyde, sondern das offen homosexuelle Paar Luke und Jon wehrte sich mit brutaler Gewalt gegen die repressive Gesellschaft. Bei der Inszenierung zeigte sich Araki indes radikaler als die Vertreter des „New Hollywood“: Nur 20.000 Dollar kostete sein Werk, bei dem er nicht nur Regie führte, sondern auch für Drehbuch, Fotografie, Schnitt und Produktion verantwortlich war.

Kinoaufstand gegen HIV
Der Begriff „New Queer Cinema“ wurde 1992 von der Medienwissenschaftlerin und Filmkritikerin B. Ruby Rich geprägt, die feststellte, dass in den zwei Jahren zuvor zahlreiche angelsächsische Independent-Filme mit homosexueller Thematik auf Filmfestivals für Sensation und Furore gesorgt hatten: Poison von Todd Haynes, Swoon von Tom Kalin, Edward II von Derek Jarman, My Own Private Idaho von Gus Van Sant und Gregg Arakis The Living End. Sie alle zeichneten sich durch eine „respektlose, energische, abwechselnd minimalistische und exzessive“ Machart aus, so Rich.
Homosexualität und offene Geschlechter-Identitäten im Film waren nichts Neues: Josef von Sternbergs Marlene-Dietrich-Figuren küssten andere Frauen bereits in den 1930er Jahren in aller Öffentlichkeit. Hitchcocks Thriller waren von schwulen und lesbischen Bösewichtern geradezu bevölkert. Die ungeheuerliche Subversion von Billy Wilders Some Like It Hot (1959) wurde durch seinen Humor verdeckt. Während das westeuropäische Arthouse- und Genre-Kino schon seit den späten 1960er und 1970er Jahren offen Homosexualität thematisierte, passierte dies in den USA nur in Underground-Filmen.
Neu am „New Queer Cinema“ war die bis dahin ungekannte Offenheit in der Visualisierung schwul-lesbischer Themen vor dem Hintergrund der HIV- und AIDS-Krise: Allein von 1990 bis 1992 starben etwa 100.000 Menschen in den USA an AIDS, die Hälfte von ihnen waren homosexuelle Männer. Die schwulen Communities machten schwere Jahre durch und erlebten geradezu das Gefühl einer nahenden Apokalypse, besonders angesichts einer passiven konservativen Regierung und einer mehrheitlich homophoben Gesellschaft.
Das „New Queer Cinema“ reagierte darauf mit einer Flucht nach vorne, die wie ein Aufstand wirkte: Nicht mit Betroffenheitsrhetorik, sondern mit experimentellen und provokanten Bildern, ambivalenten Anti-Helden und schwarzem Humor kämpften die Regisseure gegen Resignation, Krankheit, Tod und Homophobie.

Beverly Hills, 90210 auf Acid
Als ein Höhepunkt des „New Queer Cinema“ gilt Gregg Arakis „Teenage Apocalypse Trilogy“. Totally Fucked Up (1993) folgt einer Gruppe desillusionierter homosexueller Teenager in Los Angeles. In The Doom Generation (1995) fährt ein jugendliches ménage à trois durch eine bedrohliche kalifornische Wüstenlandschaft und muss unterwegs zornige Imbissbudenbesitzer und irre Stalker abwehren – oft mit blutigen Folgen. Araki selbst bezeichnete Nowhere (1997), den letzten Teil seiner Trilogie, als sein „Beverly Hills, 90210 auf Acid“: Das Leben einer Gruppe homo- und bisexueller Freunde gerät durch eine Alien-Invasion aus den Fugen.

Zwischen dem ernüchternden Realismus des ersten Trilogie-Films und dem surrealistischen Irrsinn des dritten scheinen Welten zu liegen, doch viele thematische Motive tauchen immer wieder auf. In Arakis Filmwelten sind Homo- und Bisexualität ganz normaler, ausgelebter Alltag, inklusive aller daraus resultierenden Liebeskonflikte. Abnormal sind hingegen die Homophoben, die mit brachialer Gewalt den Alltag der Teenager zerstören.
AIDS wird nebenbei, meistens lakonisch und zynisch thematisiert. Die feindlichen Aliens aus Nowhere können auch als Allegorie auf die Infektionskrankheit selbst interpretiert werden. Der Zorn aus The Living End hat sich nicht verflüchtigt, wenn in Totally Fucked Up über AIDS gesagt wird: „It’s a born-again Nazi Republican wet dream come true.“ Arakis Außenseiterfiguren werden Opfer persönlicher Apokalypsen, die sie in den gewaltsamen Tod oder ins Nirgendwo führen. Sie (und die Zuschauer) werden nicht erlöst – schon gar nicht durch ein Happy End.

NQC goes Mainstream
Die Trilogie-Filme sind ästhetisch erstaunlich. Immer wieder erschafft Araki weitwinklig fotografierte „unendliche“ Totalen mit absurden Hintergründen, die die Verlorenheit der Figuren in einer feindlichen Umwelt zeigen. The Doom Generation und Nowhere sind mit grotesken Setdesigns und komplexen Farbdramaturgien geradezu überfrachtet. Viele Zuschauer und Kritiker sahen aber keine visionären Bilder, sondern ausschließlich die offene Darstellung von Sexualität und exzessiver Gewalt, sodass die Filme bis heute umstritten sind.

Bereits im Produktionsjahr von Totally Fucked Up zeigten sich Einflüsse der „New Queer Cinema“-Bewegung auf Hollywood. Mit formelhaften Tragödie-Elementen und einer Betroffenheits-Attitüde stellt Jonathan Demmes AIDS-Drama Philadelphia von 1993 alles dar, wogegen das „New Queer Cinema“ rebelliert hat. Dennoch erhielt der Oscar-prämierte Film mehr Aufmerksamkeit als die Independent-Filmbewegung es für sich selbst je erträumen konnte.
Gerade ein Blick auf die Academy Awards seit 1994 zeigt, wie sehr sich mittlerweile auch Hollywood queerer Themen angenommen hat – etwa bei der Ehrung von Ang Lees Brokeback Mountain im Jahre 2006. Die zwei Oscar-Auszeichnungen für Gus Van Sants Aktivisten-Biopic Milk (2008) zeigen aber auch, dass Veteranen des „New Queer Cinema“ den Sprung in den Mainstream getätigt und dabei ihre Themen in massentauglicherer Form verarbeitet haben. Das trifft auch auf Todd Haynes zu, der Cate Blanchett in I’m Not There (2007) einen Mann spielen ließ. Dass Themen und Personen des „New Queer Cinema“ in den Mainstream überliefen, ließ es als radikale Bewegung des Independent-Kinos allerdings erlahmen. Gregg Araki widersetzte sich dieser Tendenz mit seinen weiterhin unabhängig produzierten, radikalen Filmen. 2004 drehte er seinen bislang größten Kritikererfolg: Mysterious Skin. Die kontroverse Thematik des Kindesmissbrauchs meistert der Regisseur dank seiner komplexen und vielschichtigen Charaktere. Im Mittelpunkt steht die Perspektive zweier missbrauchter Kinder und späterer Teenager, die im Streben nach Befreiung von der Vergangenheit verschiedene Wege gehen: Der eine landet auf dem Straßenstrich, der andere bei abstrusen Verschwörungstheorien über Entführungen durch Aliens. Doch auch mit Mysterious Skin gelingt Araki kein wirklicher Durchbruch in das Bewusstsein des Massenpublikums – nicht zuletzt aufgrund der harten und verstörenden Thematik.

FKK in Cannes
Seinen letzten Film, Kaboom (2010), hat er als „bisexuellen Twin Peaks an der Uni“ bezeichnet: Filmstudenten in farbübersättigten Dekors, Entführer und Mörder mit merkwürdigen Tiermasken, hypersexuelle FKK-Bader, lesbische Hexensabbats und eine nahende Apokalypse – alles freilich als Hommage an College-Komödien und Mystery-Serien inszeniert. Dass Araki für diesen Film die allererste ausgeschriebene „Queer Palm“ beim Cannes-Filmfestival erhalten hat, demonstriert sehr anschaulich B. Ruby Richs These vom Zerfall des „New Queer Cinema“ zum Nischenprodukt. Die Auszeichnung zeigt auch, dass er zumindest als Geheimtipp mittlerweile Zuspruch erhält. Sein nächster Film, der komplett in Frankreich produzierte White Bird in a Blizzard, ist gerade in Produktion: Das „New Queer Cinema“ ist tot, lang lebe Gregg Araki!

(Szenenfotos: Pro-Fun Media)

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