Nepal zwischen Momos und Maoismus

Nach Jahren politischer und sozialer Verwerfungen, Krieg und Instabilität bleibt Nepal tief gespalten. Doch viele sehen in den Konflikten tiefergreifende soziale Transformationen in der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Armut und Entmündigung.

von Dominik

Wir sind in Liwang, Rolpa, rund 200 Kilometer von Kathmandu entfernt, dennoch haben wir für den Weg hierher drei Tage gebraucht. Ein Wasserbüffel durchquert das glasklare Wasser eines Flusses, Frauen tragen gigantische Körbe die schmalen Pfade der Reis-Terassen hinauf, Kinder begrüßen uns mit einer Mischung aus Neugierde und Misstrauen. Das Leben scheint hart, aber friedlich. Nichts deutet darauf hin, dass wir uns im historischen Epizentrum jenes maoistischen Aufstandes befinden, der 1996 bis 2006 mehr als 13.000 Menschen das Leben kostete und die seit knapp 300 Jahren herrschende Hindu-Monarchie beendete.
Kranti Shikha ist beim Trocknen ihrer Weizenernte, als wir sie nach dem Weg fragen. „Bhat kayo?“, erkundigt sie sich – ob wir schon Reis gegessen haben – und meint damit: “Wie geht‘s?”. Dass wir sie kaum verstehen, hält sie nicht davon ab, von ihren sieben Kindern zu erzählen. Als wir Näheres über die Umgebung wissen wollen, mischt sich ihr Mann Rajesh ein. Eine Straße sei neu gebaut worden, nicht für Fahrzeuge sondern für Viehherden, aber da Trockenzeit ist, können wir sie passieren. Städte, größere Dörfer oder gar ein Bus – Fehlanzeige.
Die Familie Shikha gehört zur Ethnie der Tajpuriya, einer von mehr als hundert ethnischen Gruppen, die Lebensweise, Kultur und Sprache teilen. Die ethnische Zugehörigkeit macht zugleich auch die Stellung im hinduistisch geprägten Kastensystem aus und entscheidet somit über Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten in der nepalesischen Gesellschaft.
Wie zwei Drittel der nepalesischen Bevölkerung lebt Familie Shikha von ihrer Ernte: Reis, Weizen, Kartoffeln. Aber die gewaltigen Berge und die schlechten Straßen machen es den Menschen umso schwieriger, dem Boden das Lebensnotwendige abzuringen. In den letzten 30 Jahren hat sich die Bevölkerung verdoppelt, die technische Effizienz der Landwirtschaft jedoch kaum erhöht, sodass nach wie vor fast die Hälfte der Menschen in extremer Armut lebt. Lebensmittel müssen teuer importiert werden. Die sieben Kinder der Familie Shikha haben Liwang bereits verlassen, um Arbeit in der Stadt zu finden und ihre Familie zu unterstützen. Die Geldtransfers der knapp drei Millionen Nepalesen, die zum Arbeiten emigriert sind, bilden eine der Haupteinnahmequellen des Landes.

Bis zu 16 Stunden Stromausfall am Tag
Wir sind zurück in Kathmandu. Dunst und Smog verdecken die Sicht auf die Berge; Hupen und Motorenrattern erreichen auch den letzten Winkel der Stadt. Die engen Straßen sind überfüllt am Tag und ausgestorben in der Nacht. Kleine Läden, Teestübchen und Hindu-Tempelchen in jeder Straße harmonieren mit buddhistischen Gebetsfahnen auf den flachen Dächern der Betonhäuser. Auch Luxuswohnblöcke, Einkaufszentren und das Touristenviertel mit Nachtclubs und teuren Hotels breiten sich aus. Verworrene Kabelkonstruktionen versorgen die Häuser mit Strom. Dieser jedoch ist knapp und wird täglich abgestellt; im Winter, wenn die Flüsse und Stauseen leer sind, bis zu 16 Stunden am Tag.
Usha Titikshu ist in Eile, aber gut gelaunt, als wir sie mit einer halben Stunde Verspätung in einem Café in Kathmandu treffen. Die Friedensaktivistin arbeitet eigentlich als Photojournalistin; den Termin mit ihrem Kunden hat sie heute jedoch abgesagt, um an einer Veranstaltung der staatlichen Kommission gegen sexuelle Gewalt und Kindesmissbrauch teilzunehmen. Zwischen ständigem Handyklingeln findet sie Zeit, uns etwas über den brüchigen Frieden in Nepal zu erzählen: Zehn Jahre entlud sich der Frust der kleinbäuerlichen Bevölkerungsmehrheit des Landes über die extreme soziale Ungleichheit im „People’s War“ der maoistischen Kommunistischen Partei Nepals (CPN-M). Bis 2006 gelang es der CPN-M, mehr als die Hälfte des nepalesischen Staatsgebietes zu kontrollieren. Dort schafften die Kommunisten die Zinsknechtschaft und das Kastenwesen ab und führten eine für alle zugängliche Gerichtsbarkeit ein. Damit gelang es ihnen, die einfache Landbevölkerung und insbesondere Angehörige unterprivilegierter Kasten zu mobilisieren.
Unterdessen waren die demokratischen Parteien untereinander sowie mit dem Königshaus zerstritten. In den ersten Jahren des Aufstandes wurde der Konflikt kaum ernst genommen und die Armee aufgrund interner Unstimmigkeiten erst spät mobilisiert. 2001 scheiterten erste Friedensverhandlungen und der „Krieg gegen den Terror“ der USA nach dem 11. September verschaffte der „Royal Nepalese Army“ erhöhte Rüstungshilfen, gekoppelt mit der Forderung nach aktiverem Vorgehen. Verstärkte militärische Operationen, die zu großen Teilen gegen die Zivilbevölkerung geführt wurden, beförderten den Konflikt auf den Höhepunkt seiner Eskalation.

Auf dem Weg zur Verfassunggebenen Versammlung
„Vor dem Coup des Königs war der Frust über die demokratischen Parteien groß und der Krieg weit weg“, berichtet Usha Titikshu. 2002 fand sie sich mit weiteren Friedensaktivisten in Kathmandu zur Gründung der Citizens‘ Movement for Democracy and Peace zusammen, um die politischen Führer zu Verhandlungen zu drängen. 2005 nutzte König Gyanendra die politische Instabilität, um die demokratischen Parteien zu entmachten und sich mit Hilfe des ihm loyalen Militärs zum absoluten Herrscher zu erheben. Nicht nur, dass er damit der CPN-M aus ihrer politischen Isolation verhalf, auch seine wichtigsten internationalen Verbündeten, Indien und die USA, die die „Royal Nepalese Army“ militärisch unterstützten, brachte er gegen sich auf.
„Die Leute begannen zu diskutieren“, erzählt Titikshu: Der Citizens‘ Movement for Democracy and Peace und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen gelang es, die Bevölkerung zu mobilisieren, um die Führer der demokratischen Parteien und der Maoisten an einen Tisch zu bringen. „Zum Schluss waren alle auf der Straße.“ Es kam zum Zusammenschluss aller politischen Parteien, einschließlich der CPN-M, in der sogenannten 7-Parteien-Allianz, die den König zum Rücktritt zwang. Das Abkommen sah Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung einer demokratischen Republik Nepals sowie die Eingliederung der maoistischen Guerilla in die reguläre Armee vor. Strukturen paralleler Staatlichkeit der CPN-M sollten aufgelöst und konfisziertes Land zurückgegeben werden.
Die darauffolgenden Wahlen 2008 zur verfassungsgebenden Versammlung sieht Titikshu als Erfolg für einen demokratischen Prozess, in dem die Emanzipation von Frauen und ethnischen Minderheiten ihren Platz findet. 229 von 600 Sitzen gewann die CPN-M, die damit als deutlich stärkste der 24 Parteien des nepalesischen Parlamentes hervorging.

(Keine) Zukunft in Wellblechhütten
Sachan Subedi ist stellvertretender Direktor des Madan Puraskar Pustakalaya (MPP) Archivs in Patan, der zweiten Großstadt des Kathmandutals, die mit Kathmandu zu einer Metropolregion zusammengewachsen ist. Das MPP will der nepalesischen Gesellschaft ein Gedächtnis geben, indem es Tageszeitungen, politische Beiträge und eigene Recherchen zur Stadtentwicklung dokumentiert.
Die Wände des schlichten Betonbaus erzählen von Menschen und deren Leben während des maoistischen Aufstandes. Eine Fotoausstellung soll dazu beitragen, dass sich die gewaltsame Vergangenheit Nepals nicht wiederholt. Das Thema sei schwierig zu vermitteln, erklärt uns Subedi. Der Höhepunkt der Gewalt liege nicht einmal zehn Jahre zurück, dennoch seien das Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gering und die Risse in der Gesellschaft sehr groß. Was für die Einen die Befreiung von jahrhundertealter Unterdrückung bedeute, sei für die Anderen sinnlose Gewalt einer terroristischen Gruppierung. Die Folgen des Konfliktes seien noch lange nicht überwunden, auch nicht im Kathmandutal, das von Kämpfen relativ verschont geblieben war: Die Bevölkerungszahl habe sich in nur 15 Jahren auf zwei Millionen Einwohner vervierfacht. Viele Leben in illegal errichteten Wohnsiedlungen und haben kaum eine Perspektive auf sauberes Wasser, Bildung oder eine Arbeit.

Einige Dutzend Familien gegen  die Verfassung
Die Bilder erzählen von Männern, Frauen und Kindern, in deren Leben der Konflikt tiefe Spuren hinterlassen hat. Obwohl der Begriff Bürgerkrieg vermieden wird, sind die Geschichten dieselben: Menschen wurden von ihrem Land vertrieben, entführt, gefoltert oder umgebracht, weil sie vermeintlich den politischen Gegner unterstützten, dem Freund-Feind Denken der maoistischen Ideologie zum Opfer fielen oder für Unterstützer der Maoisten gehalten wurden. Kinder wurden rekrutiert und Familien zerrissen. Wie viele noch heute vermisst werden, weiß keiner genau.
Bei einem Tee und scharfen Momos erzählt Subedi uns, wie der König Presse und Medien zensieren und das Telefonnetz lahmlegen ließ. „Damals arbeitete ich als Lehrer und wurde selbst für einen Oppositionellen gehalten und beinahe verhaftet, weil ich eine Ausgangssperre missachtet hatte.“ Das allgegenwärtige Klima der Angst sei damals jedoch der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt und Armut gewichen. Auch die Repressionen der Polizei, die mindestens 13 Tote, hunderte Verletzte und tausende Verhaftungen zur Folge hatte, hielten die zumeist friedlichen Demonstranten nicht davon ab, den äußerst unbeliebten König zu stürzen. Dieser habe immerhin nicht das ihm gegenüber loyale Militär gegen die Demonstranten eingesetzt, so Subedi. Eine gemeinsame Verfassung hält er grundsätzlich für möglich, auch wenn die Frist dafür bereits zwei Mal abgelaufen ist und vom obersten Gerichtshof endgültig auf den 28. Mai dieses Jahres festgelegt worden sei. Über Jahre wurde über die Auflösung der Guerilla gestritten, über Posten, Ränge und Abfindungen. Immerhin wurde eine Übereinkunft getroffen, die für die ehemaligen Guerillas entweder Eingliederung in die Armee oder eine Abfindung vorsieht. Auch die restlichen Konfliktpunkte sind nach Subedis Ansicht lösbar, aber ob die Frist dafür eingehalten werden kann, sei weiter offen. Einer Einigung im Wege stehen vor allem die Profiteure der alten Elite. „Einige Dutzend Familien, deren Einfluss jedoch bis in alle politischen Parteien reicht“, erklärt Subedi. Nur wenn die Parteien es schaffen, sich gegen deren Einfluss durchzusetzen, könne ein Konsens bei der schwierigen Frage einer föderalen Struktur des nepalesischen Staates getroffen werden.
Das Gespräch wendet sich einem Familienbesuch auf einer Ziegenfarm und dem täglichen Stau zu. Der Bus, der uns zurück nach Kathmandu bringt, ist so voll, dass es uns die Luft zum Atmen nimmt, aber nie zu voll für die, die mitfahren wollen. Wir überqueren die Brücke über den Bagmati Kola, der Patan von Kathmandu trennt. Fauliger Geruch von Abwässern, Kot und Tierkadavern dringt durch die geöffneten Fenster. Zwischen illegal errichteten Wellblechhütten fließt die dickflüssige, pechschwarze Brühe langsam durch ihr Flussbett aus Plastikmüll.

Editorische Notiz
Am 28. Mai ist das Mandat der verfassungsgebenden Versammlung endgültig abgelaufen, woraufhin sie aufgelöst wurde – ohne eine Verfassung verabschiedet zu haben. Der maoistische Premierminister Baburam Bhattarai, dessen Regierung nun ohne parlamentarische Legitimation im Amt bleibt, kündigte Neuwahlen im November dieses Jahres an. Während die CPN-M dabei ist, in zwei Parteien auseinanderzubrechen, bleibt fraglich, ob alle wesentlichen politischen Kräfte die Wahlen anerkennen werden.


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