memorique: Krieg der Erinnerung

Appell der lettischen SS-Legion 1943 (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-J16133)

Lettland wurde im Zweiten Weltkrieg sowohl von den Nazis als auch von den Sowjets besetzt, Letten kämpften auf beiden Seiten. Das sorgt heute für lebhafte Kontroversen.

von Katja Wezel

Der Zweite Weltkrieg war für Lettland auch ein Bürgerkrieg: Sowohl Deutsche als auch Sowjets hatten Letten eingezogen, so dass in den Jahren 1943 bis 1945 auf beiden Seiten – teils freiwillig, meist jedoch unfreiwillig – lettische Soldaten kämpften. Nach 1944/1945 wurde Lettland erneut Teil der UdSSR und in dieser Zeit wurden alle Veteranen, die auf sowjetischer Seite gegen den „Faschismus“ in den Krieg gezogen waren, als Helden geehrt. Hingegen gab es kein offizielles Gedenken an die „Lettischen Legionäre“ – so die lettische Eigenbezeichnung –, die auf deutscher Seite gekämpft hatten und deswegen geächtet wurden. Nur im Privaten war es möglich, sich an jene zu erinnern, die gegen die Besetzung Lettlands durch Sowjettruppen gekämpft hatten und am Ende des Krieges in Scharen in Stalins GULag abtransportiert worden waren.
Nach 1991 änderte sich die geschichtspolitische Lage: Die Mehrheit der Bevölkerung wollte nun endlich der „Lettischen Legionäre“ gedenken. Denn aus ihrer Sicht waren sie die Helden – sie hatten gegen den erzwungenen Beitritt Lettlands zur Sowjetunion gekämpft. Das Interesse, den lettischen Anteil an den Veteranen der Roten Armee zu erforschen, war hingegen sehr gering. Nur langsam beginnt man die Dimensionen des Zweiten Weltkriegs als Bürgerkrieg und „Bruderkrieg“ zu begreifen.

Umstrittene SS-Legionäre
Die Erinnerungsliteratur an die „Lettischen Legionäre“ floriert. Das Gedenken an diese Soldaten, die neben der lettischen Flagge auch das SS-Zeichen getragen hatten, ist jedoch auf diplomatischer Ebene höchst problematisch: Gerade ausländischen Besuchern ist es schwer zu vermitteln, warum jährlich am 16. März Veteranen und deren Angehörige zum Freiheitsdenkmal pilgern, um in Erinnerung an die „Lettischen Legionäre“ Blumen niederzulegen. Der 16. März ist kein offizieller Gedenktag. Die privat organisierte, offiziell aber genehmigte Zeremonie ruft dennoch regelmäßig Irritationen bei internationalen Beobachtern hervor. Wie ist es möglich, dass in einem demokratischen EU-Mitgliedsstaat SS-Soldaten geehrt werden?

Demonstranten am 16. März (Foto: Pablo Andrés Rivero)

Um die lettische Sichtweise nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst eines Blicks auf die Hintergründe. Die „Lettische Legion“, im nationalsozialistischen Sprachgebrauch „Lettische SS-Freiwilligenlegion“ genannt, hatte neusten lettischen Forschungen zufolge nur ca. 15 Prozent freiwillige Rekruten. Alle anderen erhielten einen Einberufungsbefehl und wurden vor die Wahl gestellt, entweder als Zwangsarbeiter ins Reich geschickt zu werden oder in den Reihen der SS zu kämpfen. Der Beitritt wurde dadurch attraktiv, dass die beiden gebildeten „Lettischen Legionen“ einem einheimischen Kommandeur unterstanden und neben dem SS-Zeichen auch die lettische Flagge auf ihrer Uniform tragen durften. Zudem gab es Verhandlungen über eine Autonomie Lettlands im Reichskommissariat Ostland. Jene Letten, die unter dem Abzeichen der SS in den Zweiten Weltkrieg zogen, verstanden sich daher als Nationalkämpfer, die eine erneute Besatzung durch sowjetische Truppen verhindern wollten. Die Erinnerung an das erste Jahr der sowjetischen Besatzung ab Sommer 1940 und an die darauf folgenden stalinistischen Massendeportationen, im Zuge derer mehr als 15.000 Letten nach Sibirien verschleppt wurden, waren noch sehr frisch. Gerade Angehörige der lettischen Elite und Armee hatten Freunde oder Verwandte verloren. Dies gab dem Kampf gegen die sowjetische Armee Auftrieb und ließ die deutschen Besatzer als das „kleinere Übel“ erscheinen.
Dagegen spielt die Erinnerung an den Holocaust für die meisten Letten heute eine untergeordnete Rolle: Die zirka 70.000 lettischen Juden, die während der deutschen Besatzung ermordet wurden, werden in der Erinnerung überlagert von den insgesamt geschätzt 119.000 Letten, die zwischen 1940 und 1953 vom sowjetischen Innenministerium NKWD verhaftet und ermordet oder aber im Zuge der stalinistischen Deportationen abtransportiert wurden. Vielen gelang es trotz widrigster Bedingungen in den sibirischen Sonderansiedlungsgebieten zu überleben und zurückzukehren – sie blieben jedoch ihr Leben lang gezeichnet von der Deportationserfahrung. Besonders schwer wiegt die Tatsache, dass die Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion zwar ideologisiert, jedoch immerhin Teil des offiziellen Gedenkens war, während das Gedenken an die Opfer des Stalinismus ins Private und in den Untergrund verbannt wurde. Letten fühlten und fühlen sich selbst als Opfer beider Diktatoren – Hitlers und Stalins. Gleichzeitig wiegt für sie die doppelte sowjetische Besatzung 1940 bis 1941 und ab 1945 sowie die anschließende Sowjetisierung als Teilstaat der UdSSR schwerer, als die dreijährige deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Daher möchten sie nun endlich „ihrer Helden“, der „Lettischen Legionäre“ gedenken. Die andauernde Erinnerung der sowjetischen Veteranen, die nach wie vor die These der Befreiung Lettlands von den deutschen Besatzern hochhalten, ist ihnen ein Dorn im Auge.
Dies führt in Lettland zu einem bizarren Erinnerungskrieg, der jedes Jahr erneut aufflammt. Während die Gruppe der Veteranen, die am 16. März Blumen am lettischen Freiheitsdenkmal niederlegt, um an die „Lettische Legion“ zu erinnern, jedes Jahr kleiner wird, schwillt hingegen die Gruppe jener, die am 9. Mai des Sieges über die Wehrmacht gedenkt, Jahr um Jahr an. Dabei wird die Erinnerung an die Soldaten der Roten Armee, darunter auch etwa 85.000 Letten und Lettinnen, die auf sowjetischer Seite im Zweiten Weltkrieg kämpften, stark von russischer Seite beeinflusst. Der russische Fernsehsender „Erster Baltischer Kanal“ versorgt Lettland, aber auch Estland und Litauen mit Nachrichten aus Russland und dominiert die Meinungsbildung.

Gescheiterte Nationsbildung?
Für die gesamte russischsprachige Bevölkerung Lettlands ist der 9. Mai zum umfassenden Erinnerungsort geworden. Er ist nicht mehr nur der Gedenktag der Veteranen der Roten Armee, sondern aller, die sich seit 1991 vom lettischen Nationsbildungsprozess ausgeschlossen fühlen. Aufgrund der schwierigen demographischen Lage – in der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 zählten die Letten nur noch 52 Prozent der Bevölkerung in ihrem eigenen Land – wurden die sogenannten sowjetischen Siedler, Veteranen und Arbeitsmigranten, die sich nach 1945 in Lettland niederließen, in den 1990er Jahren vom dortigen Nationsbildungsprozess ausgeschlossen. Sie erhielten nicht automatisch die Staatsbürgerschaft, was zwei Drittel der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands zu „Nichtbürgern“ machte. Erst auf Druck internationaler Akteure wie der OSZE und der EU wurde das Einbürgerungsgesetz vereinfacht. Seither hat die Mehrheit der in Lettland lebenden Russen, Ukrainer und Belarussen die lettische Staatsbürgerschaft erworben. Dennoch fühlen sie sich ausgeschlossen. Besonders die Erinnerung an die Sowjetzeit als Periode des Leids und der Okkupation deckt sich nicht mit ihrer Perspektive.
Der 9. Mai ist nun zu einem Erinnerungsort geworden, an dem sich die russischsprachige Bevölkerung Rigas feiert. Es ist ein Volksfest, das jedes Jahr größer wird und von der Administration der lettischen Hauptstadt unterstützt wird, die seit 2009 einen russischen Bürgermeister hat. Die lettische Regierung hingegen betrachtet dieses Gedenken an den „Sieg über Hitlerdeutschland“ und die „Befreiung vom Faschismus“ mit Argwohn. Denn in ihrem Geschichtsnarrativ war der 9. Mai keine Befreiung, sondern führte zu einer erneuten Besetzung durch die Rote Armee, die erst mit dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen 1994 endete.
Die in Lettland aufeinander treffenden Narrative sind so unterschiedlich, dass sie nur schwer in Einklang zu bringen sind. Jedoch sind die lettischen Historiker, die nun interdisziplinär mit Beteiligung von Anthropologen und Soziologen allmählich den Knoten der Erinnerung zu entzerren beginnen, mit aktuellen Forschungsprojekten wie dem Sammelband Divas Puses (‚Zwei Seiten‘) einen Schritt weitergekommen: Nur wenn es den Historikern gelingt, beide Seiten der Geschichte zu erzählen, wird es möglich sein, die Erinnerungskonflikte in Lettland beizulegen.

Katja Wezel studierte Geschichte und Englisch in Heidelberg, Aberystwyth und St. Petersburg. 2011 promovierte sie in Heidelberg mit einem Thema zur lettischen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Seit 2013 hat sie eine DAAD-Langzeitdozentur für deutsche und baltische Geschichte an der Universität Pittsburgh inne.

Mail: wezel@pitt.edu

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