memorique Länderporträts: Aufarbeitung anderswo (Teil 1)

Auch in den ehemaligen Ostblockstaaten wird inzwischen intensiv über die jüngere Vergangenheit nachgedacht. Ein beispielhafter Überblick zu vier Ländern. Teil 1: Die Tschechische Republik und Ungarn.

Tschechien: Kommunistenjagd im Staatsauftrag

von Maximilane Theml

Im Herbst 1991 wurde in der Tschechoslowakei das umstrittenste Lustrationsgesetz ganz Mittel- und Osteuropas verabschiedet, das schon früh den Umgang mit den Verbrechen der Kommunisten und mit deren Kollaborateuren regeln sollte. Das besagte Gesetz führte allerdings schnell zu einer regelrechten „Kommunistenjagd“, denn die Beschuldigten wurden mittels der – scheinbar vertrauenswürdigen – Geheimdienstakten öffentlich benannt. Eine Million Menschen waren unmittelbar betroffen. Weit mehr Bürger wurden zudem zu Verdächtigen, da das allumfassende System des Sozialismus nahezu jeden zum vermeintlichen Täter machte.
Und heute? Erst 2008 wurde das „Institut für das Studium totalitärer Regime“ gegründet, das sicher historisch exakt arbeitet, aber die Problematik seit 1989 kaum reflektiert. Exemplarisch dafür steht der diesjährige Streit um den Direktorenposten: Der erste Amtsträger wurde entlassen, weil er sich bei seiner Arbeit nur auf die Geheimdienstakten stützte, sein Nachfolger musste nach kurzer Zeit wegen Plagiatsvorwürfen und des Besuches eines Marxismus-Leninismus-Kurses gehen. Nun stellte der Neue seinen Vorvorgänger wieder als Berater ein. Aber auch Historisches bereitet Schwierigkeiten: Wie soll der Widerstand gegen das kommunistische Regime bewertet werden, z.B. der der Mašín-Brüder, die Anfang der 1950er-Jahre Sabotageakte durchführten und bei ihrer Flucht Menschen erschossen – als Partisanenkampf oder Verbrechen? Der tschechische Publizist Karel Hvížďala meint, die politische Elite beziehe aus Angst vor Popularitätsverlusten nur zögerlich Stellung und die Gesellschaft sei immer noch nicht bereit sich selbst eine Meinung zu bilden. So kann in Tschechien von einer breiten gesellschaftlichen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit leider kaum die Rede sein.

Maximiliane Theml studiert Politikwissenschaft an der FSU Jena und verbrachte zwei Semester an der Palacký-Universität Olomouc in Tschechien.

jobbik

(Foto: H.J. Wesselink)

Ungarn: Sehnsucht nach der „glücklichen Diktatur“

von Dóra Árva

Ungarn 2010: Klamotten im Stil der Kleiderfabrik „Roter Oktober“ hängen in Budapester Designershops, Schuhe der sozialistischen Marke „Tisza“ werden wieder aufgetragen und in den Diskotheken remixen DJs die „Schlager des Kommunismus“. Man spürt, dass Retro in ist. Wer glaubt, dass Ostalgie im heutigen Ungarn eine große Bedeutung hätte, täuscht sich dennoch. Vielmehr hat die Menschen nur eine tiefe Sehnsucht nach dem Wohlstand im ehemaligen Gulaschkommunismus erfasst. Weil der wilde Turbokapitalismus nach 1989 breite Gesellschaftsschichten verarmt hinterließ, trauern v.a. Landbewohner, schlecht Ausgebildete und ältere Menschen den Zeiten nach, in denen der jährliche Balatonurlaub und das Eigenheim für alle quasi selbstverständlich, Bildung für jedermann zugänglich, die Krankenversicherung umsonst und der Lebensstandard ständig nur am Wachsen war. Neuesten Statistiken zufolge bewerten inzwischen zwei Drittel der Ungarn die einst mit „átkos“ („verdammenswerte Ära“) beschimpften Jahre des Sozialismus als die glücklichsten des Jahrhunderts.
Welch gefährliche Züge dieser starken Sehnsucht aber innewohnen, zeigt eine Studie des Prager PASOS-Instituts von 2009: Im Gegensatz etwa zu Tschechen, Polen oder Slowaken empfinden die Ungarn die Errungenschaften der demokratischen Wende inzwischen mehrheitlich als negativ. Der Demokratie gegenüber sind sie misstrauisch, den Verlust des einstigen Wohlstandes setzen sie mit dem Scheitern selbiger gleich. Nur so lässt sich erklären, warum die antidemokratische, rechtsextreme Jobbik-Partei im April 2010 mit über zwölf Prozent der Wählerstimmen als drittstärkste Kraft den Einzug ins ungarische Par­la­ment schaffte. Ideologisch zwar mei­lenweit von sozialistischen Ideen entfernt  hat die populistische „Bewegung für ein besseres/rechteres Ungarn“ doch viel mit der grassierenden Ostalgie zu tun. Enttäuschte Bevölkerungsschichten wollen das verlorene Kádár-Paradies zurück und warten auf irgendeinen Zauberer, der es wiederbringt – nach dem Scheitern der Altkommunisten nun eben mit romafeindlichen Parolen, sentimentalem Nationalismus und paramilitärischen Einheiten.

Dóra Árva wuchs in Ungarn auf und arbeitet heute als öffentlich bestellte und beeidigte Übersetzerin und Englisch­dozentin in Bamberg.

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