Kunst, Schmerz und Erinnerung

(Foto: /flickr: Tracy Sigler)

Jenseits der großen geschichtspolitischen Kontroversen hat der armenische Völkermord einen Nischenplatz in der Kultur gefunden: Schriftsteller, Maler, Musiker, Filmemacher und Dramatiker haben ihn künstlerisch verarbeitet – 10 Beispiele.

von Anna, David, Frank, julibee, Robert & Szaffi

The Artist And His Mother
Gemälde, USA 1926-1936
Künstler: Arshile Gorky
Vosdanig Adoian, geboren 1905, überlebte den Völkermord an den Armeniern und immigrierte in die USA, wo er unter dem Pseudonym Arshile Gorky zu einem einflussreichen Vertreter des Surrealismus und abstrakten Expressionismus wurde. Besonders The Artist And His Mother wurde in der armenischen Diaspora als Gorkys künstlerisches Zeugnis des Genozids rezipiert. Auf Grundlage eines 1912 aufgenommenen Portraitfotos von ihm und seiner Mutter malte der Künstler im Zeitraum eines Jahrzehnts zwei Versionen des Bildes: eine stille Hommage an seine Mutter, die 1918 verhungerte.

Nahapet
Spielfilm, UdSSR 1977
Regie: Henrik Malyan
Nahapet ist ein Mann, der kaum spricht und noch seltener lächelt: Seine ganze Familie hat er im armenischen Genozid verloren. Nun ist er alleine und mittellos in ein abgelegenes Bergdorf im sowjetischen Armenien gelangt. Nahapet hält an der Nichtdarstellbarkeit des Völkermords fest: Nicht die Ereignisse von 1915 selbst, sondern die späteren Erinnerungen der Titelfigur an sie werden zwischendurch in Szene gesetzt – Erschießungen, stilisiert in extremen Zeitlupen dargestellt, oder aber symbolisch als Schwall roter Äpfel, der ins Meer rollt. Im Zentrum des über weite Strecken dialogfreien Films steht die extreme Leere, die der Völkermord zurücklässt: der leere Raum, den keine Menschen mehr ausfüllen; die emotionale Leere, die jegliche Gefühlsregungen absurd erscheinen lässt. Hilfe bietet nicht so sehr die bolschewistische Elektrizitätskampagne im Dorf als vielmehr die arrangierte Ehe mit einer anderen Überlebenden des Völkermords, die nach und nach wieder Nähe und Vertrauen entstehen lässt.

Sang d’Arménie
Comic, Frankreich 1985
Autor: Guy Vidal
Zeichnungen: Florenci Clavé
Am 26. August 1896 besetzt eine kleine Gruppe von Armeniern eine internationale Bank in Konstantinopel, um die Weltöffentlichkeit auf die brutale Verfolgung ihrer Landsleute im Osmanischen Reich aufmerksam zu machen. Der Comic Sang d’Arménie schildert diese Episode aus der Perspektive eines fiktiven kanadischen Journalisten. Gewidmet ist der Band dem armenischen Schuster Dicran – ein Überlebender des armenischen Völkermords, den Autor Guy Vidal in seiner Jugend in Marseille kennen lernte und der im Comic als einer der kämpferischen Bankbesetzer wieder auflebt. Erzählt wird nicht nur eine „Ersatzgeschichte“ zum Völkermord von 1915, sondern vor allem auch eine „Einführungsgeschichte“, die sich in einer bitteren Pointe auch in den Kontext der antisemitischen Verfolgungen im späten Zarenreich und des Holocaust stellt.

Bluebeard
Roman, USA 1987
Autor: Kurt Vonnegut
Kurt Vonnegut entführt den Leser in das Leben des fiktiven Malers Rabo Karabekian, bekannt aus Breakfast of Champions, ein berühmteres Werk des Autors: von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück, von Weltkriegen zur Weltwirtschaftskrise und ins Jetzt, wo das ‚wahre Leben’ stattfindet. Ein Leben, das dem Maler nur möglich ist, da seine Eltern den armenischen Genozid überlebten und in die USA flüchteten. Rabos armenische Identität ist ständig greifbar: Confessions of an Armenian Late Bloomer, wie er sein Werk selbst nennt, thematisiert das Überlebenden-Syndrom, Feminismus und Kriegsschuld. Am Ende steht ein glücklicher Protagonist und die Frage: „What is it about Armenians that they always do so well? There should be an investigation.“

P. L.U.C.K.
Nu-Metal, USA 1998
Interpret: System of a Down
Bereits auf ihrem ersten Album widmeten System of a Down den Song „P. L.U.C.K.“ (Politically Lying, Unholy, Cowardly Killers) den Opfern des Genozids an den Armeniern. „A whole race genocide / Taken away / Watch them all fall down“, singt Serj Tankian und unterstreicht, von aggressivem Sound untermalt, die Positionierung der Band. Auch in Interviews thematisieren sie immer wieder die Verbrechen an ihren Vorfahren. 2006 wirkten sie an der Dokumentation Screamers mit. Anlässlich des 100. Jahrestages ruft die Band mit der Wake Up The Souls-Tour gegen das Vergessen auf. Ihre Homepage bietet eine Weltkarte mit Informationen rund um den Völkermord und Fans werden aufgerufen, sich mit Tweets unter #wakeupthesouls am Projekt zu
beteiligen.

Ararat
Spielfilm, Kanada / Frankreich 2002
Regie: Atom Egoyan
Ein Filmteam dreht ein Melodrama über die Besetzung von Van. Ein junger Mann mit Filmrollen im Gepäck unterhält sich mit einem Zollbeamten über den armenischen Völkermord. Ararat spielt mit verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen und konstruiert die Erinnerung an den Genozid nicht durch bebildernde Betroffenheit, sondern durch einen stark intellektuellen Zugang. Der Film leugnet, dass klassisches Erzählkino dem Genozid gerecht werden kann: Der Handlungsstrang zum Dreh des Films-im-Film wirkt bisweilen wie eine polemische Antwort auf Machwerke wie Schindlers Liste (oder – vorausschauend – The Cut): Der Gedanke, Leute in Kostümen durch eine Kulisse laufen zu lassen, um Völkermord zu spielen, wird ad absurdum geführt. Ararat ist ein faszinierender Film über den Prozess des Erinnerns und des Filmemachens.

A Distant Sadness
Soundtrack, USA 2006
Interpret: Bear McCreary
Der amerikanische Komponist Bear McCreary beschrieb 2006 in einem Interview das armenische Nationalinstrument Duduk als „einfache Holzflöte, die Generationen von Traurigkeit dramatisiert“. McCreary, dessen armenische Großmutter Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Türkei floh, nutzte die Duduk selbst einige Male in seinen Stücken für die Neuauflage der Sci-Fi-Serie Battlestar Galactica. „A Distant Sadness“ begleitet Szenen, die die unterdrückten Serienhelden im Kampf um ihre Freiheit zeigen. Zu den Klängen des traditionsreichen Instruments schrieb McCreary einen armenischen Liedtext mit eindeutiger Botschaft. Er fasste die Erinnerung an Diaspora und Sterben der Armenier in bewegende Worte und nutzte sie als Hintergrund für den fiktionalen Überlebenskampf auf dem Bildschirm: „Gestrandet im eigenen Land / Eine Erinnerung, geätzt in Haut und Seele“.

Nicht ich bin der Mörder
dokumentarisches Theater / szenische Lesung, Deutschland 2010
Inszenierung: Heinz Böke
Regie: Tuncay Gary
„Ich habe einen Menschen getötet, aber ein Mörder bin ich nicht gewesen“, verteidigt sich Soromon Tehlerjan während des Strafprozesses. Er ist angeklagt, den türkischen Großwesir Talat Pascha ermordet zu haben. Das dokumentarische Theater verarbeitet diesen Prozess. Dabei werden Auszüge aus dem Gerichtsverfahren und, als Ergänzung, Artikel aus einer heutigen türkisch-armenischen Zeitung vorgelesen. Talat war in der Türkei in Abwesenheit wegen seiner Beteiligung am Völkermord zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde von dem jungen Armenier in Selbstjustiz vollstreckt. „Kann man unschuldig sein, wenn man einen Mörder tötet?“ ist die zentrale Frage der Lesung von fünf Schauspielern aus den Herkunftsländern Armenien, Türkei, Österreich, England und Deutschland. Die Lesung wird zur Geste, soll versöhnen und zur Verständigung beitragen.

Meine Großmutter:Erinnerungen
Roman, Deutschland 2011
Autorin: Fethiye Çetin
Die türkische Menschenrechtlerin Fethiye Çetin erzählt die beeindruckende, aber nicht beispiellose Geschichte ihrer Großmutter. Einst Heranuş getauft, wird sie von Pflegeeltern Seher genannt, als wäre sie als Türkin geboren worden. Früher war sie Christin, heute ist sie eine „Konvertierte“, wie ihr Ausweis sagt. Armenisch ist ihre Muttersprache, heute spricht sie mit ihrer Enkelin Türkisch. Die Großmutter hat den Völkermord als Kind erlebt, wurde auf dem Todesmarsch von ihrer Mutter getrennt und einem türkischen Ehepaar zugeführt. Dort wurde der „Zögling“ als Türkin sozialisiert. Das offizielle Schweigen bedeckt die Ereignisse von 1915. Nur die Schicksalsgenossinnen haben nicht vergessen, was ihnen widerfahren ist. „Diese Frauen hatten ihre Vergangenheit vor ihren Kindern und Kindeskindern zu verbergen gewusst, aber untereinander, in der Stille ihre Traditionen fortgesetzt.“ Als sich das Leben der Großmutter dem Ende neigt, bittet sie ihre Enkelin, den Rest der Familie zu finden, der nach Amerika ausgewandert ist. Es beginnt eine Spurensuche nach Verwandten, verschwiegener Vergangenheit und der eigenen Identität.

Paragraph 301 – Die beleidigte Nation
fünf Schauspiel-Performances,
Deutschland 2012
Dramaturgie: Tuncay Kulaoglu, Irina Szodruch
Als der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink 2005 zu einem halben Jahr Haft auf Bewährung verurteilt wurde, war er das erste prominente Opfer von § 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Türkentums“ (seit 2008: „der türkischen Nation“) unter Strafe stellt. Dink hatte in Artikeln den Völkermord an den Armeniern öffentlich thematisiert. Im Januar 2007 ermordete ihn ein junger türkischer Nationalist auf offener Straße. Fünf Jahre später widmete das postmigrantische Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin Hrant Dink den Performance-Abend Paragraph 301 – Die Beleidigte Nation. Eine der fünf Darbietungen, Neden? (dt. ‚Warum?’), rekonstruiert die gleichnamige türkische Talkshow, die sich nach Dinks Verurteilung mit dem § 301 befasst hatte – Dink wurde im Verlauf der Sendung von nationalistischer Seite massiv kritisiert und indirekt bedroht. Noch aufwühlender, noch intensiver zeigt sich Spiegelungen, eine Performance, die Dink und seinen Mörder, den zum Tatzeitpunkt erst 16-jährigen Orgün Samast, für einen fiktiven Dialog in einem Glaskasten aufeinandertreffen lässt.

 

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