Kreatique: Spuren im Schnee

von gonzo

Der alte Mann lässt eine Zigarette zwischen seinen grindigen Fingern wandern, mühelos zwischen den Knöcheln hindurch, das war mal seine Spezialität. Er wurde früher darauf angesprochen, sogar von Frauen. Manche haben ihn gemocht, den undurchschaubaren Einsiedler.

Die Kippe bekommt einen schneidigen Stoß vom Mittelfinger und landet souverän in einem der improvisierten Aschenbecher. Und in rostigen Konservendosen mit Bohnen und Birnen und Trauben und Mais und Paprika mit Chili und Tomaten auf Chefsalaten, nach Etikett schon lange geleert und unter dem Bett begraben. Der Alte kauert im Lehnstuhl und hat spinngliedrige Krampfadern auf der Nase.

Manchmal fühlt er sich wie eine Anatomie-Collage, die er im Biologie-Unterricht der 5. Klasse anfertigen musste. Hier befindet sich eine Niere und hier ist noch eine. Lunge, Herz und Hirn: dreifaltiges Gestirn. Das rechte Bein bekleidet eine Arterie, bei deren Verletzung man unweigerlich verbluten musste.

Dieses Haus war mal eine Schlachterei, damals, bevor alles den Bach runterging. Nur Alpträume erinnern noch daran. Alpträume von amputierten und stöhnend herumkrie­chenden Schweinehälften und Rindern und greinenden Kälbern und viel Blut verlieren – viel Blut verlieren. Wie nach einem sehr schweren Verkehrsunfall.
Die zugige Halle bietet fraglichen Lebensraum, unergründliche Akustiken. Jahrealte, bezugslose Hügel von Ameisenkolonien: Vertrocknete Erdbauten, auf rostfreien Schlachtbänken errichtet. Blinde, beinerne Spinnengeschöpfe, die sich in verlassenen Vogelnestern wiegen und grausige Götzen anbeten. Eine speckige Matratze hinter den eingeschlagenen Fenstern des alten Vorarbeiterbüros. Abgenagte, abstrakt verkantete Knochengestelle, die von namenlosen kultischen Riten zeugen, die dereinst um Beistand und Rettung anriefen. Klamme Flammen aus einer ranzigen Feuerstelle, die man mit einem Feuerhaken schürt.
Wenn der klirrende Winterhauch durch die Ritzen heult, wird er noch einen Balken auflegen und diesige Zerrbilder an die beschlagenen Scheiben zeichnen: Mammuts und Gnus und Gazellen, die von steinzeitlichen Jägern belauert und gejagt werden und gleich verschwinden, wo immer sich sein hagerer Atem auf dem trüben Glas wieder niederschlägt.

Schorfige Sperrholzplatten schützen die provisorische Lagerstätte vor dem kalten Gewölbe der Halle. Knarren und Plagen – tief in den Eingeweiden des Gemäuers. Diamantene Eiszapfen ergießen sich über jeden Vorsprung, jeden Spalt wie ein Schlüsselbein. Der grundlose, brackige Tümpel des einstigen Frischwasserpolders liegt wie ein gähnendes Maul in einer unscheinbaren Kellermulde. Ein schwarzes, eisiges Grab für viele unvorsichtige Grabräuber. Feuchter, körperloser Dunst steigt daraus auf, kristallisiert sich beständig wie Trugbilder in quecksilbernen Fraktalen heraus.

Der alte Lumpensammler sitzt am Feuer und trinkt versetzten Spiritus aus einer der windschiefen Dosen. Albinoweiße Nachtfalter knistern stoisch über der Glut. Werfen hypnotische Schatten auf den Schnee. Und er tut es auch: Mondsüchtiger, ekstatischer Fandango. Die blecherne Mundharmonika zwischen den mahagonifarbenen Zähnen: Indianertanz, wild und kannibalisch. Benzin, das im Feuer gedeiht. Tabakblätter, die wie im Zeitraffer in der Feuchtigkeit verfaulen. Segelschiffe, die ranzigen Fisch im Wind aufhängen und Menschen wie madigen Speck. Vertraute Gerüche wehen längst vergessene Erinnerungen vom Pier des trüben Hafens herüber.

Überreifer Sud aus Kirschen und Stachelbeeren – woraus Großvater sirupsüßen Wein machte – und Angeln am Fluss in Kindertagen, als wir Forellen fingen und die Forellen springen nun über klaffende Gräben aus Eis und aus Teer in ein Meer, an dessen Ufer die Gehängten schaukeln, dort, wo die Stechfliegen fischen, dort, wo die Ratten sich selbst verschlingen.

Apokalyptische Visionen vom Jenseits des Lichtkegels seiner Flamme. Beschwörungen und Flüche im sirenenhaften Singsang asketischer Homunkuli. Er schlägt nach Ihnen im Traum, im Schlaf, unfähig ihr eingebildetes Leben zu beenden. Narrende Windspiele der herabhängenden Flei­scherhaken: Die Geister der Vergangenheit – sie folgen den Spuren im Schnee.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Kreatique: Spuren im Schnee“

  1. Avatar von xylos
    xylos

    das is ja mal ne starke story!

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