Kolumne: Spracharchitektur

Das Englische als herrschaftlicher Landsitz – "ein wenig wie Downton Abbey" (Foto: flickr/ Bas Sijpkes)

Über die Nützlichkeit architektonischer Metaphern zur Sprachanalyse schreibt Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena.

Wie würden Sie, verehrter Leser, die deutsche Sprache beschreiben? Melodiös, wohlklingend, vertraut, hart, kompliziert, elegant, rauh, präzise, synthetisch, flektierend …? Die Antwort hängt wohl nicht nur davon ab, welche die eigene Muttersprache und somit der implizite Vergleichsmaßstab ist, sondern auch, ob man eine sprachwissenschaftliche Ausbildung genossen hat: Jemand, der das Deutsche als eine synthetische und flektierende Sprache bezeichnet, hat wahrscheinlich mindestens eine Einführung in die Sprachwissenschaft besucht. Nun ist es zur Charakterisierung einer Sprache in einem streng wissenschaftlichen Rahmen durchaus angebracht, auf die Fachterminologie zurück zu greifen.
Sprachen sind jedoch mehr als eine Anhäufung von miteinander verknüpften Einzelcharakteristiken – so wie ein Mensch mehr ist als die Summe seiner (organischen) Teile. Um eine Sprache genauer kennen zu lernen und beschreiben zu können, benutze ich deshalb gerne den Vergleich mit einem Gebäude. Das Englische stelle ich mir als herrschaftlichen Landsitz vor – ein wenig wie Downton Abbey: durchaus imposant in seiner Gesamterscheinung, aber ohne die Schnörkel eines Barockschlosses (was eher für das Französische passen würde) und trotz seiner Größe von einer einladenden Gemütlichkeit. Die Fundamente des Herrenhauses sind über tausend Jahre alt und gehen auf eine angelsächsische Klostergründung zurück – so wie das Altenglische das Fundament der englischen Sprache darstellt und seine erste Kodifizierung durch die Kleriker erhalten hat. Der Grundriss und Aufbau des Gebäudekomplexes ist jedoch über die Jahrhunderte vollständig verändert worden – so wie sich das Englische von einer synthetischen zu einer analytischen Sprache wandelte. Über dem angelsächsischen Fundament haben die normannischen Eroberer ihre Steinmauern errichtet – ähnlich dem französischen Einfluß auf die englische Sprache, die von ihrer romanischen Schwester mehr als 10.000 Wortbausteine übernommen hat. An das ursprüngliche Zentralhaus wurden dann über die Jahrhunderte mehrere Seitenflügel und Außengebäude hinzugefügt – vergleichbar mit den vor allem für die verschiedenen Wissenschaften wichtigen Fachsprachen, welche hauptsächlich aus dem Lateinischen und Griechischen gespeist werden.
Im Haus selbst findet man eine Unzahl von Gegenständen und Artefakten (sprich: Lehnwörtern) aus aller Welt, die Zeugnis ablegen von der weitreichenden Reisetätigkeit früherer Besitzer und so die immense Ausdehnung des britischen Imperiums widerspiegeln. Trotz seiner Größe ist der Landsitz für den Besucher leicht zugänglich – beinahe trügerisch leicht, denn die Komplexität des Gebäudes macht sich erst dann bemerkbar, wenn der Besucher tiefer in sein Inneres vordringt. Ähnlich ergeht es denjenigen, die Englisch lernen: Die ersten Schritte bewältigt man relativ schnell und ohne Probleme. Diese beginnen dann erst auf einer höheren Stufe. Und zu guter Letzt stellen wir fest, dass das Haus eine Doppelstruktur besitzt: Auf der einen Ebene sind die Bediensteten zugange (‚downstairs’), auf der anderen die Herrschaften (‚upstairs’). Dieses Klassendenken findet sich auch in der englischen Sprache wieder, die eine feine (oder auch nicht so feine) Unterscheidung in unterschiedliche Register und Stilebenen anbietet – und wehe dem Besucher, der sich in der Etage (bzw. dem Register) irrt.
Mein ‚architektonischer’ Vergleich trifft vielleicht nicht immer zu hundert Prozent zu, aber er erlaubt, ein lebendiges und anschauliches Bild einer Sprache zu zeichnen – und macht nicht nur Lust neue Räume in bereits bekannten Gebäuden zu erforschen, sondern auch die Architektur neuer Sprachen zu erkunden. Und wann machen Sie Ihre nächste ‚Spracharchitekturreise’?

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