Kolumne: Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters

Über Lyrik für alle fünf Sinne schreibt Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena.

Gegen sprichwörtliche Redewendungen kann (und sollte) man normalerweise nicht argumentieren – höchstens mit einer Gegenredewendung. Das Schönheitsideal, wie es uns in den Texten des englischen Mittelalters entgegen tritt, hat seinen Ursprung aber wohl eher in der Schulbuchrhetorik als in der unvoreingenommenen Betrachtung des Gegenübers – die Schönheit liegt dort also im rhetorischen Training des Dichters und nicht so sehr im Auge. So besitzen die besungenen Damen typischerweise ‚a forehead fair and brood’ (‚eine schöne und breite Stirn’), ‚eyen grey as glass’ (‚Augen, die grau-blau sind wie das Glas’), Haut ‚whyt as wales bon’ (‚weiss wie Walfischknochen’), ‚a middel slim and smal’ (‚eine schlanke und schmale Taille’) und sind überhaupt ‚gaynest under gore’ (‚die hübschesten im Kleid’).
Viele der in den Gedichten anzutreffenden Ausdrücke verdanken ihre Existenz der Alliteration: Das mittelalterliche Glas war zwar tatsächlich graublau und nicht farblos wie wir es heute gewohnt sind, aber dass die Augen der Damen ausgerechnet mit diesem Glas verglichen werden, ist der alliterierenden Wiederholung des Anlauts (hier ‚grey – glas’) zuzuschreiben. Gleiches gilt für das Weiß der Walfischknochen, wobei in diesem Fall als Variation öfter auch die passendere weiße Lilie als Vergleichsgegenstand verwendet wird.
Dies alles lernt der mittelalterliche Leser und Autor in der Schule, wo ihm (die männliche Form ist hier exklusiv gemeint!) anhand von Modellbeschreibungen vorgeführt wird, wie eine schöne Frau auszusehen hat. Dazu verwenden die Schulbuchautoren das Beispiel der Helena von Troja, die rasterartig von Kopf bis Fuß beschrieben wird. Nun muss man bedenken, dass das Mittelalter zwar durchaus seine ‚Bilder’ hatte, die visuelle Prägung des mittelalterlichen Menschen jedoch nie mit derjenigen des modernen Menschen verglichen werden kann. Unsere modernen Schönheitsideale haben ihren Ursprung tatsächlich ‚im Auge’ und es sind die (audio-) visuellen Medien, die primär dafür verantwortlich sind, was und wen wir als attraktiv und schön empfinden.
Die Lektüre eines mittelenglischen Gedichts wie ‚Moste I ryde by Rybbësdale’ zeigt jedoch, dass dem modernen Menschen trotz (oder gerade wegen) des technologischen Fortschritts bei einer rein visuellen ‚Schönheitsvermittlung’ viele Aspekte verloren gehen. So eröffnet der mittelalterliche Dichter die Beschreibung seiner Angebeteten zwar in klassischer Manier mit einer Schilderung des Aussehens der Dame und malt gewissermaßen ein Bild vor dem inneren Auge des Lesers/Hörers, bezieht dann aber in einem nächsten Schritt die anderen Sinne mit ein. So wird der Atem als ‚würzig’ bezeichnet (was im Mittelalter durchaus als Kompliment gedacht war, da Gewürze sehr teuer waren und nur bei besonderen Gerichten verwendet wurden), ihre roten Lippen lächeln nicht einfach stumm vor sich hin, sondern lesen aus einer Ritterromanze vor, womit das Gehör angesprochen wird, und ihre Haut wird mit wohlriechendem Balsam in Verbindung gebracht – womit sowohl der Tast- wie auch der Geruchsinn mit einbezogen werden. Der Leser gewinnt so Schritt für Schritt und Sinn für Sinn eine immer genauere und – in diesem Zusammenhang gewollt – sinnliche Vorstellung von der vielschichtigen Schönheit der Dame. Damit ist das Gedicht paradoxerweise einer Fotografie oder sogar einem Film überlegen und es müsste heißen: Schönheit liegt im Auge, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn des Betrachters.


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