Jena ist nicht Lauscha
Professor Bruno Hildenbrand über Fremdheit und Heimat(en)

Der Soziologe und Philosoph Alfred Schütz hat in seinen Aufsätzen „Der Fremde“ und „Der Heimkehrer“ detailliert eine sozialwissenschaftliche Perspektive von Fremdheit und Heimat dargestellt. UNIQUE sprach mit Prof. Dr. Bruno Hildenbrand über Schütz‘ Darstellung und die soziologische Bedeutung dieser Alltagsphänomene.

UNIQUE: Herr Prof. Dr. Hildenbrand, wenn das neue Semester bald beginnt, wird Jena wieder voll von Erstsemestlern sein, die sich hier anfangs unsicher und fremd fühlen. Können Sie aus soziologischer Sicht erläutern, was die Situation eines „Fremden“ ausmacht?

PROF. HILDENBRAND: Der Fremde ist ja irgendwo zu Hause; nehmen wir an, es kommt jemand aus Lauscha hierher nach Jena. Lauscha ist ein relativ kleiner Ort, jeder kennt jeden, es gibt da Interaktionsmuster vertrauter Art, also genügen ein paar wenige Worte, um eine Situation oder eine Person zu charakterisieren. Jetzt kommt er in die fremde Stadt, dort herrschen relativ andere Interaktionsmuster: es ist mehr anonym, es ist eine Stadt und keine Kleinstadt. Da kennt sich eben nicht jeder. Wenn man also mit den Routinemustern, mit denen man in Lauscha gut über die Runden kommt, durch Jena gehen würde, würde man relativ schnell an seine Grenzen stoßen.
Beispielsweise, wenn Sie durch einen kleineren Ort gehen und Sie grüßen die Leute nicht, dann machen Sie sich unmöglich. Das können Sie nur als Fremder sich erlauben. Das ist der Unterschied, zunächst mal zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Wir können aber auch andere Unterschiede nehmen, nämlich beispielsweise zwischen der Interaktion in einer Schule, wo man das Abitur ablegen kann, mit Lehrern, die man über Jahre kennt, und dann einer Situation an einer Universität, wo es bis vor kurzem kein Curriculum gegeben hat. Sie können sich in gewissem Umfang das Studium selbst zusammenstellen und das ist eine zunächst einmal unvertraute, fremde Situation.
Es gibt bestimmte Praktiken in der Schule, wie man sich einem Lehrer nähert – die Frage ist, wie man sich einem Hochschullehrer nähert. Benutzt man dieselben Muster? Spricht man sie auf dem Gang an, stellt man sich brav in der Sprechstunde an oder vermeidet überhaupt den Umgang mit solchen Leuten, weil man nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll und ob sie jetzt von dieser Welt oder von einer ganz anderen Welt sind?
Das heißt: man muss sich letztendlich von den einigen Selbstverständlichkeiten, die man sich im bisherigen Leben erworben hat, in gewisser Weise verabschieden, schauen was hier so an Selbstverständlichkeiten gilt und sorgfältig testen, ob das, was dort gilt, wo man herkommt, tauglich ist, um sich hier zu orientieren. Da gibt es natürlich eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die teils institutionalisiert sind, teils auf informelle Art und Weise entwickelt werden. Man sucht sich ein paar Kommilitonen, mit denen man sich diese Welt „Universität“ erschließt, also beispielsweise gibt es Hochschullehrer, die schätzen Gruppenarbeit sehr. Solche Gruppen sind dann gleichzeitig auch eine Art Expedition, die sich auf den Weg macht, um sich die fremde Welt „Universität“ zu erschließen, man gibt sich gegenseitig Tipps. Das wären informelle Varianten. Es gibt natürlich auch formelle Varianten. In der alten Universität waren das die Burschenschaften, die etwas in Verruf gekommen sind – teils zu Recht. Das war nichts anderes als ein Mechanismus, um den Leuten die fremde Welt Universität zu erschließen, wobei: so fremd war die natürlich nicht, weil es da um Reproduktion von Bildungskapital ging. Früher war die Universität sehr stark abgeschlossen, nur wenige Prozent haben studiert und die, die studiert haben, stammten aus Familien in denen die Eltern schon studiert hatten und man hatte in der Universitätsstadt so seine Verbindungen, wo man sich letztlich wie in Form einer Seilschaft diese Welt erschlossen hat, die also gar keine fremde Welt war.
Zurückkommend auf den jungen Mann aus Lauscha, der vorhin das Beispiel war: Er hat möglicherweise, wenn er aus dem sogenannten „bildungsfernen Milieu“ kommt, noch ganz andere Probleme, sich diesen Platz zu erschließen. Was hat er für Möglichkeiten? Er wird ja nicht gleich zur Burschenschaft gehen. Es gibt die katholische und evangelische Studentengemeinde; das wäre auch so ein Mechanismus, wo gewissermaßen ein Ort geschaffen wird, der den Übergang erlaubt zwischen der vertrauten Welt, wo man herkommt und der fremden Welt, auf die man sich hin orientiert. Es gibt die Fachschaften, die einem Unterstützung geben; es gibt dann die diversen Studentenvereinigungen von Parteien; also es gibt eine Reihe formeller Möglichkeiten, die helfen den Übergang vom Vertrauten ins Fremde zu organisieren, sodass man sich über kurz oder lang dieses Fremde erschließt.
Es ist eigentlich wie jemand, der in den Urwald zieht und wenn er kein JPS oder eine Landkarte oder einen Kompass dabei hat, dann wird er ein paar Probleme kriegen oder aber er trifft Leute unterwegs, die er nach dem Weg fragt. Auf die lange Sicht betrachtet sind diejenige am besten dran, die es verstehen, möglichst viele Leute möglichst direkt zu fragen. Also stellen wir uns mal vor es kommt jemand aus Sonneberg und spricht den dortigen Dialekt; der traut sich ja gleich gar nicht den Mund aufzumachen, weil jeder gleich sagt: ach, du kommst ja von Sonneberg. Das sind ja auch solche Barrieren, die sich dann auftun, wenn man irgendwo fremd hinkommt. Außer man findet ein paar Kumpels aus Sonneberg und macht hier dann eine Sonneberger Doppelkopfrunde auf. Das wäre auch dann ein Coping-Mechanismus, um sich die fremde Welt hier zu erschließen. Also, jeder wird so seine Wege finden; am besten ist es natürlich, wenn man seine soziale Kompetenz möglichst gut ausbeutet.

Sind diese Probleme, die der Fremde hat, denn durch interkulturellen Dialog oder die wachsende weltweite Vernetzung überwindbar, oder sind das strukturelle Gegebenheiten, mit denen man sich abfinden muss?

Nehmen wir mal das Internet: da gibt es ja solche Plattformen. Dazu habe ich eine schöne Glosse gelesen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in der eine 38jährige Kolumnistin von einem Geburtstag berichtet hat, wo 15-, 16jährige Mädchen erzählt haben, dass sie so und so viele Freunde auf der Welt haben, und die 38jährige sich sehr alt vorkam, weil sie andere Vorstellungen von Freundschaft hatte. Freundschaft ist für sie etwas Verbindliches, Face-to-face-mäßiges gewesen und jetzt kommen die daher und tippen in die Tasten „Willst du mein Freund sein?“ und der andere sagt „ja“ und das wäre eine Basis für Freundschaft. Das fand sie unmöglich, bis sie dahinter gekommen ist, dass es eigentlich nur darum ging, mit möglichst vielen Leuten Kontakt zu haben – das heißt natürlich noch längst nicht, eine Face-to-face-Beziehung. Das ermöglicht das Internet in der Art natürlich nicht. Interessant ist, dass sie sich aber quer durch die Welt im Rahmen von „social worlds“, ein Begriff, der sehr stark von Anselm Strauss benutzt wird, einem amerikanischen Soziologen, oder „kleine Lebenswelten“, wie Benita Luckmann sagt, sehr gut bewegen können. Also beispielsweise Landwirte: wenn ein australischer Sheep-Farmer sich mit einem schottischen Sheep-Farmer trifft, können sie sich sofort über ein paar Sachen verständigen, z.B. wie sie die Wolle verkaufen. Also, auf der Basis eines gemeinsam geteilten Interesses ist es überhaupt kein Problem, in der Welt herumzufahren und Leute anzutreffen, mit denen man auf der Grundlage dieses gemeinsam geteilten Themas Kontakte schließen kann bis hin zu Freundschaften, relativ schnell. Nur, es sind segmentierte Kontakte. Das hat für weltweite Vernetzung sozusagen – ich meine das jetzt nicht wertend – positive und negative Konnotationen. Die positive ist: über ein bestimmtes Thema kann man sich quasi mit jedem weltweit verständigen, wenn man das Thema gemeinsam teilt. Aber an der Grenze des Themas liegt auch die Grenze der Gemeinsamkeit. Und das ist ja kein Problem, aber weil jede Community, jede soziale Gruppierung ihre eigenen Routinemuster hat, wird es so sein, dass auf einer Ebene oberhalb der Routinemuster natürlich Kommunikation problemlos möglich ist, aber in dem Augenblick, wo man den Alltag teilt, wird es schwierig.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: ich habe neulich eine Engländerin getroffen, die seit 20 Jahren in der Dordogne lebt, in Frankreich. Wir waren zusammen in einer Gruppe unterwegs und dann sagt sie, sie lebt seit 20 Jahren in Frankreich, aber es ist ihr noch nicht gelungen, problemlos in einem Gesprächsfluss zu sein. Also, um einen herum sitzen fünf oder zehn andere Leute, die einen reden über dieses, die anderen über jenes, und sie sagt, sie kriegt nicht mit, was die reden. Warum? Weil sie in diesen Routinefluss, in dieser Selbstverständlichkeit menschlicher Interaktion, nicht so eingebettet ist, obwohl sie seit 20 Jahren da lebt, sondern es sind immer explizite Face-to-face-Gespräche, in denen sie problemlos kommunizieren kann. Aber das Belanglose, das Routinemäßige, unterhalb der Ebene der expliziten Reflektion, das ist ihr nicht zugänglich und sie vermutet, dass das ihr das in ihrem Leben nicht zugänglich sein wird. Das heißt, es gilt für jeden, was Carl Valentin oder von mir aus auch Alfred Schütz gesagt hat: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Wenn die ganze Welt in denselben Routinemustern gefangen wäre, dann würden wir in einem äußerst armseligen Gebilde von Erdball leben. Das ist ja gerade das Interessante. Warum reisen die Leute überhaupt weg? Manche reisen, damit sie mit solchen fremden Routinemustern konfrontiert sind, mal etwas anderes erleben. Es gibt natürlich auch Reisende im Massentourismus. Ich hab einmal eine Diplomarbeit betreut, da ging es um Busreisen nach Lloret de Mar. Lloret de Mar ist sozusagen der Prototyp des Massentourismus. Die Studentin war unterwegs mit Videokamera und Tonbandgerät und hat „drei Tage Lloret de Mar für 99 Deutschmark“ – das war in den 80er Jahren – gefilmt. Von den Leuten, die mit dem Bus nach Spanien gefahren, da 3 Tage geblieben und dann über Nacht wieder zurückgefahren sind, hat kein einziger auch nur ein Fitzelchen von Spanien mitgekriegt. Die haben, wie dort angepriesen wird, deutschen Kaffee getrunken, deutsche Pommes gegessen, sie sind mit einer deutschen Reiseleitung durch das Hinterland gefahren. Das war also sozusagen eine Reise in die Fremde zum Zweck der Vermeidung der Begegnung mit Fremde.
Andere gehen dann – ich werte das auch gar nicht – in die Fremde, um gerade das Andere zu sehen und das kann man dann schockartig erleben, wenn sie plötzlich mit anderen Routinemustern konfrontiert sind. An kleinen Stellen wird einem klar, dass man in der Fremde ist.

Lassen sich denn mit diesen soziologischen Ansichten auch Vorbehalte gegen Fremde oder Fremdenfeindlichkeit erklären?

Ja, natürlich. Sie haben unterschiedliche Umgangsformen: die einen, die in die Wärme fahren, weil sie an der Wärme und nicht am fremden Land interessiert sind – das ist die eine Variante. Die anderen fahren in die Fremde, weil sie interessiert, wie andere Leute sich im Alltag routinemäßig einrichten und die dritten bleiben am liebsten zu Hause und fühlen sich von allem, was ihren Routinemustern nicht entspricht, bedroht. Das kann alles Mögliche sein. Es gibt natürlich Menschen, die relativ leicht aus der Lebenskurve fallen, wenn sie mit Fremdem konfrontiert werden. Das sind aber meistens solche, die sich selber in prekären Lebenslagen befinden und mit Leuten konfrontiert werden, die aufgrund ihrer Routinemuster die eigene Lebensform in Frage stellen. Und das ist klar: das Reaktionsmuster ist dann Feindlichkeit gegenüber dem Fremden.
Man würde ja denken, dass je mehr Kommunikation um die Welt herum läuft, desto mehr ist die Welt eine einzige Gemeinschaft, „wächst die Welt zusammen“. Jetzt haben wir ja allerlei Kommunikationsmöglichkeiten rund um den Globus und trotzdem wächst nicht viel zusammen. Warum ist ganz einfach: weil diese Kommunikationsmöglichkeiten – da sind wir wieder beim Internet wie vorhin – auf der Oberfläche sind. Sie können beispielsweise beobachten, dass es Leute fertigbringen, abends am Stammtisch über schwarze Asylanten herzuziehen, aber böse zu werden, wenn ihr Kumpel Sammy aus Ghana dumm angemacht wird. Das ist nämlich gar nicht so einfach zu begreifen, dass Leute, wenn sie anonym mit einer Gruppe zu tun haben, sie ablehnen, ihr feindlich sogar gesonnen sind. Wenn sie aber personale Beziehungen haben, ändert sich die Sache total. Das führt dann zu Formulierungen wie „Alle Italiener sind Taschendiebe, aber über meinen Kumpel Luigi lass ich nichts kommen“.

Worin liegen denn nun die Unterschiede zwischen der Situation des Fremden und des Heimkehrers?

Bei Schütz wird die Situation des Heimkehrers so beschrieben, dass für den Heimkehrer, nachdem er in der Fremde war und dort allerlei erlebt hat, die Teilhabe an den routinemäßigen Mustern seiner Herkunftsgruppe aufgehört hat, als er weggegangen ist, während aber für die, die zuhause geblieben sind, die Welt ja weitergegangen ist. Das ist die Situation von Odysseus: er kommt nach Hause und denkt es ist alles wie es war. Insofern ist Odysseus natürlich der Prototyp des Heimkehrers.
Der Heimkehrer erlebt die Situation, dass die, deren Routine weitergegangen ist, sich eigentlich nur begrenzt dafür interessieren, was er draußen erlebt hat. Sie verfügen über Stereotype aus der Presse oder aus Erzählungen. Sie typisieren den Mann oder die Frau dann in der entsprechenden Richtung und wollen gar nicht mehr seine Geschichten hören. Ihnen ist viel wichtiger, dass sie ihre Geschichten weiter erzählen können, an denen er aber nicht mehr teilhaben kann, weil man diese Geschichten nur erzählt, wenn man an dieser Gemeinschaft über die Zeit hinweg teilgenommen hat und deshalb ist die Situation des Heimkehrers fast noch psychosozial schwerer auszuhalten als die des Fremden, denn es gibt diese Kluft: der Fremde weiß, dass er fremd ist, der Heimkehrer meint, er kehrt nach Hause zurück und er tut es nicht.

Sind denn Studenten, die nur alle paar Wochen oder Monate nach Hause zu ihrer Familie fahren, auch solche Heimkehrer und was bedeutet das für ihre Beziehung zur Familie?

Das hängt vom Fach ab; ich bleibe jetzt mal bei der Soziologie und dem Ort Lauscha: es gibt eine Planstelle für Soziologen in Lauscha mit Sicherheit nicht. Wer aus dem ländlichen Bereich kommt und nicht gerade Agrarwirtschaft studiert hat, kann sich gleich darauf einstellen, dass er mit diesem Studium auch in die Verlegenheit kommt, neue Heimaten zu entwickeln. Es ist ja nicht so, dass es DIE Heimat und DIE Fremde gibt. Also die Idee, dass es „die eine Heimat“ gibt, wo alles toll ist, und draußen ist die Fremde und jeder, der in der Fremde ist, der ist ein armer Kerl, das ist eine sonderbare Idee – in der Moderne funktioniert das schon lang nicht mehr. Heimat ist letztlich gar nicht, was man hat, sondern wohin man unterwegs ist. Von dem Philosophen Ernst Bloch stammt der Satz „Heimat ist, wo noch niemand war“. Und dann hat Waldenfels, ein anderer Philosoph, gesagt: „und wo man nie sein wird“, denn wenn man nur in der Heimat wäre, dann wäre die Welt ein Mausoleum. Also, es gibt nicht das Anregungspotenzial des Fremden.
Der entscheidende Punkt ist der: unterschiedliche Heimaten zu haben, sich klar darüber zu werden, dass das Leben in der Moderne eine Veranstaltung ist, wo die Welt sich ständig ändert. Also, wenn Sie beispielsweise in Jena leben, was hat sich da in den letzten 60 Jahren verändert? Wenn ich nach Konstanz komme, wo ich fast 10 Jahre gelebt habe, zwischen 1970 und 1980, ist das nicht mehr die Stadt, in der ich gelebt habe, das ist eine ganz andere Stadt. Im Leben wollt ich da nicht mehr hingehen. Aber das ist trotzdem eine meiner Heimaten.
Also, diese Zentrierung auf eine Heimat, das ist ein Bild, das vielleicht von bestimmten Medien produziert wird, z.B. von den eher schlichten Medien, die dann halt Heimatsendungen bringen, die von A bis Z verlogen sind, weil sie mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben, wo letztlich Heimat verwechselt wird mit Regression.
Die Situation des modernen Menschen ist nicht die, dass er eine Heimat hat, die er leider ständig verliert, sondern es ist die, dass er offen ist für „Beheimatungen“ – hier und da.

Und was bedeutet es aus dieser Perspektive, wenn jemand Heimweh hat?

Das ist überhaupt ein interessantes Thema: Wann hat man Heimweh? Heimweh hat man in einer bestimmten Lebensphase, und zwar in der Adoleszenz, also bis ins frühe Erwachsenenalter. Beispielsweise: Sie sind aus irgendwelchen Gründen gezwungen, Ihre Schulzeit nicht in Ihrem Heimatort zu verbringen, sondern in einem Internat 300 Kilometer weg. Etwa, wenn Sie blind geboren sind, gibt es nicht viele Schulen in Deutschland, wo Sie eine angemessene Schulausbildung erhalten. Was glauben Sie, was diese Kinder Heimweh haben! Oder der Student aus Lauscha: natürlich hat er Heimweh, aber irgendwann verliert sich das. Irgendwann wird es so sein, dass er nach Lauscha kommt und denkt: ‚Hoffentlich ist das bald vorbei und ich bin wieder in Jena!‘
Also Sie sehen, Heimweh ist eine lebenszyklische Angelegenheit. Sie findet in gewissen Zeiten statt. Das verläuft sich dann mit der Zeit, wenn man so seine verschiedenen Heimaten hat. Es sind diese Ablösungsprozesse. Heimweh im Kontext eines Ablöseprozesses hat eine ganz andere Dimension, als wenn Sie eine gewisse Melancholie ergreift, weil Sie berufshalber in Berlin leben und eigentlich Ihre Heimat Köln ist. Es ist dann aber eine moderate Form von Melancholie, die Sie sich leisten. Aber es wird nicht Ihr Leben dominieren.
Auf der anderen Seite, wenn Sie sich die Daten anschauen, wo die Menschen leben, dann werden Sie ziemlich erstaunt sein. 60 Prozent der Bevölkerung leben nicht weiter als eine Stunde Fahrt von ihren Eltern entfernt. Das heißt ja letztlich, dass es in unserer Gesellschaft schon eine starke Tendenz gibt, die Differenz zu minimieren, den „Nahraum“ der Heimat nicht zu überdehnen.
Aktuell habe ich drei Heimaten. Wenn ich den Ort, wo ich herkomme, dazurechne, sind es vier. Von den vergangen Heimaten mal ganz zu schweigen. Aber das sind bestimmte Lebensformen, die durchaus nicht für die gesamte Bevölkerung angesetzt werden können.

Ist man denn als Dauerurlauber, der jedes Jahr wieder in dasselbe Städtchen oder auf denselben Campingplatz kommt, auch noch ein Fremder oder schon eher ein Heimkehrer?

Wenn man sich da mal nicht täuscht! Es gibt ja solche Sachen, da läuft es mir immer kalt den Rücken runter, wenn ich so etwas lese: der Bürgermeister von Altötting begrüßt im Festzelt das Ehepaar X aus Y und sie kriegen eine Medaille für den 25. Aufenthalt an diesem Ort. Die denken, das ist ihre zweite Heimat. Das ist ein riesiger Irrtum, weil sie den Ort Altötting nur durch einen bestimmten Ausschnitt wahrnehmen, nämlich den des Urlaubers. Und da kriegen sie 99 Prozent dessen, was diese Lebenswelt Altötting ausmacht, überhaupt nicht mit. Das ist eine Täuschung, aber wieder interessant, dass Leute so etwas machen. Sie wollen in der Fremde sein und die Fremdheit minimieren. Aber wir Soziologen haben ja manchmal solch komische Ansichten oder Attitüden, alles kulturkritisch niederzumachen. Den Zungenschlag wollte ich da gar nicht reinbringen. Ich wollte lediglich auf das schöne Paradox hinweisen. Südtirol ist auch so ein Reiseziel. Man ist im Ausland und kann dort trotzdem Deutsch reden und man fährt dort 25 Jahre hin, immer in dieselbe Pension und ins selbe Zimmer, damit man immer dasselbe Bett hat und weiß, was man sieht, wenn man aus dem Fenster schaut. Das Wohnmobil ist übrigens dasselbe. Mit dem eigenen Bett in der Weltgeschichte herumfahren zu können, liegt strukturell auf derselben Ebene wie die, die in Südtirol immer in dieselbe Pension gehen.

Schütz‘ Ansichten zum Fremden und zum Heimkehrer wurden posthum in den 1970er Jahren veröffentlich. Sind denn seine Ansätze seitdem irgendwie verworfen oder modifiziert worden?

Das waren damals die „Gesammelten Aufsätze I“ 1971, aber das sind alles Aufsatzsammlungen, die vorher schon publiziert worden sind. Bernhard Waldenfels hat in den 80er Jahren dann diese zu einfache Dichotomie, „Fremde“ und „Einheimische“, diese Polarisierung, zurückgenommen und hat eben den Zungenschlag hinein gebracht, den ich vorhin erwähnt habe: dass im Prinzip auch der, der zu Hause ist, nicht 100 Prozent Heimat hat, weil Heimat eine Prozessgeschichte ist, wobei immer ein Rest an Unheimischem bleibt.

Die Untersuchung „Der Fremde“ trägt den Untertitel „Ein sozialpsychologischer Versuch“. Ist das im Prinzip gar kein genuin soziologisches Thema?

Wieso Schütz das Sozialpsychologie genannt hat, das weiß ich auch nicht. Oder ob das überhaupt von ihm stammt. Schütz war ein jüdischer Jurist, der sich außerhalb seiner juristischen Tätigkeit mit eigentlich philosophischen Fragestellungen beschäftigt hat, nämlich mit der Phänomenologie in der Tradition von Edmund Husserl. Er hat sich damals über Paris in die USA begeben und hat dort begonnen in einer Bank zu arbeiten. Und abends hat er dann gelehrt an der „New School for Social Research“, das war damals eine Erwachsenenbildungs-einrichtung. Dort hat er sich auch mit soziologischen Fragestellungen beschäftigt, die aber im Wesentlichen Essay-Charakter hatten. Also „Der Fremde“ und „Der Heimkehrer“ sind Essays, die er damals aus aktuellem Anlass geschrieben hat, nämlich bezüglich der Frage einer Reintegration der amerikanischen Soldaten nach dem II. Weltkrieg, die gar nicht einfach war.
Es ist aber nicht so, dass Schütz eine empirische Untersuchung gemacht hat. Der Essay hat mehr Freiheitsgrade als eine empirische Untersuchung, wobei natürlich manch originellerer Gedanke darin steckt als in diversen empirischen Untersuchungen. Warum er das jetzt „sozialpsychologisch“ genannt hat, weiß ich auch nicht.

Abschließend, können Sie denn den Interessierten, auch den Nicht-Soziologen, eine gute und allgemein verständliche Einführungsliteratur zu dieser Thematik empfehlen?

Ja, „Die ungefähre Welt“ von Milan Kundera. Das ist zwar ein Roman, aber eine wunderbare Einführung. Teilweise denkt man, dass Kundera nichts anderes im Sinn hatte, als Alfred Schütz in Romanform umzusetzen. Da geht es darum – das ist für das Thema Heimkehrer wichtig – dass ein Tscheche, der 1968 vor den Russen nach Dänemark geflohen ist, in den 90er Jahren zurückkehrt und herauskriegen will, wer ihn damals verraten hat. Er beschreibt minutiös, wie es ihm da gegangen ist, alles viel fassbarer als bei Schütz, weil Kundera offenbar Primärerfahrungen in der Beziehung hat. Deshalb würde ich als Einführung in das Thema des Heimkehrers dieses Buch empfehlen. Oder gleich Homers „Odyssee“.
Für den „Fremden“: Bruce Chatwin beschreibt mit „In Patagonien“ einmal eine Reise durch Südamerika, das wäre etwas für den „Fremden“. Oder natürlich „Der Fremde“ von Albert Camus. Da wären wir auch gleich auf derselben Baustelle, weil Camus eigentlich auch sehr stark von der Phänomenologie oder Existenzialphilosophie beeinflusst war.

Herr Professor Hildenbrand, ich danke Ihnen für das Gespräch.


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