Im Schein des Steuerknüppels

Die Gesetze des Alltags sind hart. Man denke an den jahrhundertealten Kampf im Dickicht des Verkehrs. Nur einer thront über der Hektik und weilt doch mitten unter uns: der Straßenbahnfahrer.

von Laser

Straßenbahn- und Busfahren gelten gemeinhin nicht als die spannendsten aller Tätigkeiten im alltäglichen Zeitvertreib. Man steigt ein, sitzt mit einer Horde schweigender Personen auf engem Raum und kann es kaum erwarten, die grenzenlose Freiheit der Stadtluft wieder zu erkämpfen. Mit fremden Fahrgästen in Bus und Bahn kommt man jedenfalls nicht ins Gespräch. Dazu bedarf es wahrhaftig eines Wunders – selbst pöbelnde Penner oder eine erdrückende Enge um zwei Uhr nachts führen höchstens zu einer Interaktion des kollektiven Kopfschüttelns. Und der Fahrer erst! Vom Rest der Menschen hermetisch abgetrennt, zwischen unüberwindbarer Tür und offensichtlicher Drohung („Nicht mit dem Fahrer sprechen!“), eignet sich dieser anscheinend am allerwenigsten als Person von Belang, abseits des Anfahrens und Bremsens. Auf den ersten Blick zumindest.
Es ist die Fahrerkabine, die trotz Einsamkeit eine ungeheure Spannung gepaart mit grenzenloser Herzlichkeit offenbart. Das Abenteuer ist zu beobachten, wenn sich zwei Bahnen kreuzen. Sie fahren aneinander vorbei und die Fahrer setzen auf den richtigen Moment. Sie warten auf die ideale Situation, um sich gegenseitig zu grüßen. Dieser Gruß wird mit einem leidenschaftlichen Maß an Gelassenheit vollzogen: Die Hand hebt sich nur minimal vom Steuerknüppel, meist reicht ein Wink mit Zeige- und Mittelfinger. Als wäre dies noch nicht genug der Ekstase, nicken sich die beiden Auserwählten gleichzeitig in aller Seelenruhe zu. „Die Welt gehört uns!“, scheinen sie zu denken.
Momente wie diese lassen den Beruf des Nahverkehrsfahrers als lebenswerten Traum in neuem Licht erscheinen. Und das geht wohl nicht nur Kindern so. Nein, wirklich jeder sehnt sich nach dieser entspannten Arbeitswelt inmitten der Beschleunigung des Alltags, zwischen röhrenden Auspuffrohren und klappernden Kettenschaltungen. Wahrscheinlich hat Hartmut Rosa, hiesiger Professor der Soziologie, genau hier, im Schein des Steuerknüppels, seine grandiose Studie zur „Beschleunigung“ auf die Probe gestellt: „Das Tempo des Lebens“, so Rosa im gleichnamigen Werk, „hat zugenommen und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot“ – eine klare Sache. Aber nicht in der Fahrerkabine! Hier liegt der Schlüssel der Erkenntnis. Der Fahrer lebt den Vibe der Schiene. Und der Gruß macht diese Schwingung erst möglich. Von dieser Entschleunigung kann der gemeine Bürger nur träumen.
Trotz allem wissen die Bahnfahrer nicht immer von ihrem Glück, ja, sogar der Ursprung dieses fabelhaften Grußes scheint ungewiss zu sein. „Das ist nun mal so“, sagt ein Bahnfahrer aus Jena mit wertvollen Schienenerfahrungen aus dem Raum Erfurt (wo übrigens die gleiche Grußkultur vorherrschen soll), „das hat sich eingebürgert. Man macht das halt einfach“. Fast kommt der Gedanke auf, dass dieser Gruß bedeutungslos ist. „Wenn man sich nich’ grüßt, ja dann ist das halt auch so.“ Irren wir hier also doch einem fernen, niemals dagewesenen Traum hinterher?
Weit gefehlt. Entschleunigung und der vergessene Gruß, eine gute und schlechte Alltagsstimmung – alles hängt eng miteinander zusammen. Rund um den Steuerknüppel haben wir es mit einem sensiblen Seismographen zu tun. „Man hat ja nicht jeden Tag eine gute Laune“, so derselbe Bahnfahrer zwei Sätze später. „Man fährt ja nicht immer zum Spaß durch die Stadt.“ Da ist es. Es gibt Momente, da schaffen es auch die schlechten Stimmungen in die Nähe des Steuerknüppels. Dann, wirklich nur dann, wird auch der Gruß links liegen gelassen. Und sofort weiß jeder andere Bahnfahrer, was Sache ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass nicht auch der nächste Kollege einen schlechten Tag erwischt hat. Ansonsten schlägt die Depression die Runde. Und in viereinhalb Stunden Arbeitszeit legt ein Fahrer viele dieser Runden zurück – wir hoffen auf eine möglichst hohe Gruß-Quote und träumen weiter.

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