Heimat jenseits der Nation(en)

(Foto: dpa)
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Multikulturell statt national – für viele junge Schlesier ist das Leben als Minderheit eine Chance und kein Fluch. Statt eines nationsgebundenen Heimatgefühls entwickelt sich die Wahrnehmung Europas als Zuhause.

von Patrycja Kniejska

Die nationale Identität meint eine Nation als den Ort, dem man sich verbunden fühlt, der „Heimat“ ist. Ich hingegen bin Polin aus Notwendigkeit, Deutsche aufgrund meiner Wurzeln, Schlesierin dem Gefühl nach. Mit ihrer „Transidentität“ ringen viele meiner Bekannten. Sie ist keine einheitliche, sondern eine bunte, transnationale Identität, die verschiedene Kulturen und Traditionen verbindet. Einer Person mit einer solchen Identität fällt es nicht leicht, sich voller Überzeugung als Mitglied nur einer Nation  zu verstehen.
Ich hatte nie ein Herz für den polnischen Patriotismus. Die deutsche Nationalhymne kenne ich nicht auswendig. Den schlesischen Dialekt spreche ich nicht flüssig, denn als ich sechs Jahre alt war, forderte ich von meinen Eltern, nur Hochpolnisch mit mir zu sprechen, weil meine Erzieherin im Kindergarten mich ständig ermahnt hatte. Aber wenn ich den Dialekt höre, bewegt er mich. In der Schulzeit forderte man von uns,  polnische patriotische Lieder zu singen, Adam Mickiewicz und Cyprian Kamil Norwid während der Gedenkfeiern zu rezitieren. Anlässlich des Jubiläums des Grundgesetzes schleppte man uns in die Gottesdienste und am Unabhängigkeitstag standen wir festlich gekleidet neben der Fahne stramm. Polen, polnisch, Pole – keine Rede von Alternativen. Drei oder vier Schulstunden vielleicht haben wir Karol Miarka und Wojciech Korfanty (historische schlesische Aktivisten) und den schlesischen Aufständen gewidmet. In der polnischen Kultur sind wir also aufgewachsen, obwohl viele von uns mechanisch auf sie reagiert haben – die Lehrer forderten, also lernten wir.

Im Geist des Pluralismus
Was ist polnische Identität denn eigentlich? Es hängt davon ab, so scheint es, wer diese Frage beantwortet. Der offiziellen Selbstbeschreibung nach zeichnet sich Polen aus durch eine mitreißende Literatur, Vielfalt der Nationen, Toleranz, Romantik, Mut, unermüdliches Streben nach Unabhängigkeit… Und die katholisch-konservative Vision, derer Vertreter sich das Recht auf die Wahrheit anmaßen? Eine xenophobe, nörgelnde, konspirative, pessimistische Version, die einige junge Menschen aus dem Land vertreibt und andere dank ihres Radikalismus anzieht?
Meine schlesische Identität hat einen säkularen Charakter. Ich komme aus keiner Bergarbeiter-Familie, ich bin keine praktizierende Katholikin, weiß relativ wenig über die Geschichte meiner Region. Trotzdem spüre ich meine ethnische Besonderheit. Diese ist bestimmt keine „versteckte deutsche Option“, wie Jarosław Kaczyński sie den Schlesiern zuschreibt. In unserem Haus hat man kein Deutsch gesprochen, obwohl meine Großeltern vor dem Krieg geboren wurden und sich bis heute als deutsche Bürger bezeichnen. Wegen ihrer Vorfahren durften viele meiner Altersgenossen den Antrag auf die deutsche Staatsangehörigkeit stellen und dann ins Ausland zur Arbeit fahren – nicht unbedingt mit dem Gedanken an eine Rückkehr. Gegenwärtig lebt eine große Zahl von Bewohnern des Oppelner Bezirks als Pendelmigranten. Die deutsche Sprache hat man uns seit der ersten Klasse in der Schule beigebracht. In der Zeit der Kommunismus und in den 1990er Jahren bekamen wir von Angehörigen aus Westdeutschland Pakete mit Süßigkeiten oder Waschmittel. Seit ich mich erinnern kann, hatten wir beispielsweise Adventskalender zu Hause, die in Polen erst viel später modern geworden sind. Ich mag die Melodien alter Volkslieder und summe zum Beispiel sehr gerne „Auf, auf zum fröhlichen Jagen“ oder „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“. An diese Melodien erinnere ich mich viel besser als an polnische Lieder.
Ich werde dem deutschen Staat immer dankbar dafür sein, dass er mir die Möglichkeit zu einer weiteren Entwicklung und Bildung verschafft hat. Ich spüre aber, dass Schlesien der Ort ist, wo mir das Atmen am leichtesten fällt. Ich bin nicht die einzige: Auf der Suche nach ihrer Identität versuchen viele junge Schlesier, alte Traditionen, Sitten oder die Mundart wiederzubeleben. Sie erstellen Internetseiten, auf denen sie die schlesische Kultur aus moderner Perspektive vorstellen, sie verkaufen T-Shirts mit schlesischen Aufdrucken, sie treffen sich und organisieren friedliche Demonstrationen und Märsche für die Autonomie dieser Region. Sie fühlen sich als Europäer, gleichzeitig aber sind sie mit ihrer lokalen Umgebung besonders verbunden. Für die Autonomie der Region setzt sich eine Organisation ein, die sich „Bewegung für die Autonomie Schlesiens“ nennt und deren Mitglieder ihre Aktivität mit dem Wirken der Spanier in Katalonien vergleichen. Sie glauben fest daran, dass ihre Bestrebungen mit der Entwicklung der EU als einer Föderation übereinstimmen.
In vielen politischen Milieus werden solche Erwartungen der Schlesier heftig kritisiert. Zbigniew Ziobro, Vertreter der rechtskonservativen Partei Solidarna Polska, hat behauptet, dass Schlesier als gesellschaftliche Gruppe praktisch nicht existent und Polen gegenüber feindlich seien. Abgesehen vom Oxymoron in dieser Äußerung muss man betonen, dass Ziobro auf diese Art und Weise über  816.000 Bürger geurteilt hat, die während der Volkszählung 2011 als Nationalität „schlesisch“ angegeben hatten.
Viele meiner Bekannten identifizieren sich nicht zu 100 Prozent nur mit einer nationalen bzw. ethnischen Gruppe. Oft stammen ihre Eltern aus unterschiedlichen Ländern und haben uns Kinder im Geist des Pluralismus und der Vielfalt der Nationalitäten erzogen. Entsteht eine neue Generation von Personen mit Transidentitäten; von Menschen, die sich nicht nur mit einer Nation, nur mit einer politischen Option identifizieren können? Oder existiert sie vielleicht schon längst? Sind Aufrufe der Konservativsten zur Treue gegenüber dem Heimatland, den traditionellen Werten oder zum Schutz vor der „destruktiven, kaputten, modernen Welt“ noch legitim? Bedeutet Integration wirklich Unifikation und Verrat der eigenen Wurzeln?

Erfreulicher Identitätenmix
Ich glaube, dass meine Generation das riesige Glück hat, in Zeiten des relativen Friedens leben zu können. Wir haben viele Möglichkeiten, eigene Wurzeln zu suchen und aus verschiedenen Kulturen Positives zu ziehen. Vielfalt, Buntheit, Andersartigkeit begeistern und faszinieren. Uns ist klar, dass man Menschen aller Nationalitäten und ethnischer Gruppen schätzen soll; dass man voneinander lernen kann; dass man eigenen Werten treu bleiben und fremde tolerieren kann. Unwissen fördert Angst und Feindlichkeit. In einer globalisierten Welt scheint Isolation keine richtige Haltung zu sein. Richtig ist eher der Wille zur Integration und Zusammenarbeit. Personen mit einer transnationalen Identität fällt es leicht, diese Herausforderung zu verstehen.
Ich frage ab und zu meine Freunde, die eine Transidentität leben, in welcher Sprache sie denken und träumen. Sie antworten mir meistens, dass es davon abhängt, in welcher Stadt sie gerade übernachten. Dann erkläre ich, dass es mir um die Frage nach Identität geht. Meine Gesprächspartner denken kurz nach und fügen hinzu, ihre Identität sei vielfältig und dass sie diese Eigenschaft sehr schätzen. Sie sind schnell irritiert, wenn sie ein bestimmtes Wort in einer Sprache vergessen oder falsch konjugieren bzw. deklinieren. Sie finden Teile von sich in mehreren Ländern oder Regionen. Einer meinen Bekannten sagt mir ab und zu, dass es für ihn wichtig ist, die Sprache des Landes, in dem er sich gerade aufhält, zu beherrschen. Er meint, er fühle sich dann im Ausland mehr „zu Hause“.
Es reifen, verändern und entwickeln sich in mir drei Identitäten – vielleicht werden es im Laufe der Jahre noch mehr sein. Mein Identitäten-Mix freut und bereichert mich. Er macht mir klar, dass wir an erster Stelle Menschen und nicht Bürger sind. Denn im Grunde bedeutet „zu Hause“ für uns heute nicht unbedingt nur „eigenes Land“. Europa ist unser Zuhause. Es ist schön, die Grenzen zu überschreiten, die nicht mehr existieren, und andere Europäer treffen zu können. Es ist ein Bestandteil unseres Lebensstiles, unseres Daseins, unserer Entwicklung. Wenn Europa ein Haus mit vielen Zimmern ist, sind wir die Kinder, die von einem in den anderen Raum rennen und in diesem Haus gemeinsam in Freude erwachsen werden.

Patrycja Kniejska (26) promoviert an der TU Dortmund in Sozialer Gerontologie über polnische Pflegekräfte in Deutschland. Von 2010 bis 2011 war sie Stipendiatin der GFPS, seit 2011 der Friedrich Ebert Stiftung. Sie hat an der Universität Opole (Polen) 2010 den Magisterstudiengang Geragogik absolviert.

Mail: patrycja.kniejska[ät]gfps.org

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