„Der Leser sollte die Erfahrung nacherleben“

Seit 2009 hebt die Hotlist der unabhängigen Verlage jährlich zehn Neuerscheinungen besonders hervor. Auf die Shortlist für 2017 hat es auch eine Graphic Novel geschafft: „Geisel“ von Guy Delisle.

von Frank

Guy Delisle ist Comic-Fans vor allem durch seine Reportagecomics aus Shenzhen, Pjöngjang, Birma und Jerusalem (allesamt hierzulande bei Reprodukt erschienen) bekannt geworden. Diesmal geht der Kanadier neue Wege – zum ersten Mal hat er in Geisel eine Geschichte umgesetzt, die nicht seine eigene ist. Die Graphic Novel schildert das Schicksal von Christophe André, der 1997 als Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ im Nordkaukasus von tschetschenischen Separatisten entführt wurde. Delisle hatte die Story bereits vor über zehn Jahren für sich entdeckt, die Umsetzung aufgrund anderer Projekte aber immer wieder verschieben müssen; inzwischen sind zwei Jahrzehnte seit der Entführung vergangen – und das Warten auf die Comic-Adaption dieser tragischen Geschichte hat sich wirklich gelohnt.
Warten ist auch das wesentliche Motiv dieser Graphic Novel: 111 Tage war Christophe in der Gewalt seiner tschetschenischen Entführer; nach vier, fünf Tagen entwickeln sich Routinen – da ist es sogar schon eine willkommene „Abwechslung“, wenn beim Frühstück ein wenig Brühe verschüttet wird. Und immer wieder stellt sich Christophe die Frage: „Sie haben mich doch wohl nicht vergessen haben?“

Guy Delisle im Gespräch zu seiner Graphic Novel Geisel

unique: Die Graphic Novel wird nicht nur von den Medien in Deutschland sehr gelobt, sondern war bei Erscheinen auch ein großer Erfolg in Frankreich. Was fasziniert die Menschen so sehr an Geisel?
Guy Delisle: Das habe ich mich auch gefragt. Für mich – und wohl auch für den Leser – geht es da um Freiheit, auf eine extreme Weise. Der Protagonist Christophe ist ein ganz normaler Kerl, in einer außergewöhnlichen Situation. Ich denke, der Leser fühlt sich mit ihm verbunden, denn eigentlich kann so eine Entführung theoretisch jedem passieren, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

Hast du versucht, dich beim Zeichnen in Christophe hineinzuversetzen, oder wolltest du einfach das bebildern, was er dir erzählt hat?
Ich habe versucht, mich in seinen Kopf zu versetzen. Denn ich musste ihn ja im Comic denken und sprechen lassen. Ich entschloss mich, erst einmal zu schreiben und es dann Christoph zu schicken – wir waren inzwischen befreundet, und er kommentierte meine Entwürfe und gab mir ein paar Hinweise. Ich wollte exakt seine Erfahrung wiedergeben, insofern war die enge Zusammenarbeit unverzichtbar.

Was war die größte Herausforderung bei Geisel? Das langsame Erzähltempo? Der lange Zeitraum? Oder eher die Ernsthaftigkeit des Themas – bisher waren deine Comics ja eher witzig…
In allen diesen Aspekten war Geisel anders als das, was ich normalerweise mache. Aber ich wusste, worauf ich mich einlasse. Es war ernster, also habe ich meinen Zeichenstil auch angepasst – eine Entführung zeichne ich natürlich nicht im Cartoon-Stil. Auch die Erzählweise ist selbstverständlich eine andere, da ist kein Platz für Humor. Aber gerade das war eine Herausforderung, die mich auch gereizt hat, weil ich sonst viel mit Humor gearbeitet habe. Zugegeben, nach 300 Seiten wurde es ein bisschen ermüdend, immer wieder den gleichen Charakter zu zeichnen, gefesselt an einen Heizkörper… Aber der Leser sollte die Erfahrung nacherleben, und das brauchte nun mal einiges an Seiten.

Was hält die Zukunft bereit für Geisel und für dich als Künstler?
Ein Filmproduzent ist interessiert daran, die Graphic Novel zu adaptieren. Dabei ist Christophe natürlich involviert, denn schließlich ist es seine Geschichte, die ich verarbeitet habe. Als Zeichner möchte ich nach solch einem Buch erst einmal etwas mit mehr Witz und Humor machen… vielleicht etwas für Kinder.

Wir danken herzlich für das Gespräch.

Wie Guy Delisle diese langwierige Geschichte umsetzt – nämlich fast ausschließlich durch innere Monologe des Entführten – zieht den Leser mitten ins Geschehen. Und dabei ist Delisle eben kein allwissender Erzähler: Wir wissen genauso wenig wie der Entführte, was außerhalb der Räume passiert, wer nach ihm sucht, und ob. Das hält den Leser eng an der Figur, ebenso der Umstand, dass wir genau so wenig von dem Kyrillisch-Kauderwelsch der tschetschenischen Entführer verstehen können wie seinerzeit Christophe. Optisch wirkt Geisel dabei stets zurückhaltend (daran hat das großartige Lettering, besorgt von Olav Korth, einen erheblichen Anteil), ohne jedoch beliebig oder gar arm an Atmosphäre zu wirken. Allein wie Delisle das Vergehen der Zeit – eine besondere Herausforderung bei der Bebilderung solcher Situationen – optisch umsetzt, etwa durch den wandernden Sonnenstand an der kahlen Wand, ist große Comic-Kunst. Im französischen Original lautet der Titel übrigens S’Enfuir („entkommen“ oder „fliehen“), hat also eine deutlich aktivere Komponente als das deutsche Wort Geisel.
In jedem Fall beweist Guy Delisle mit diesem Werk eindrucksvoll, dass er auch abseits der humoristischen Schiene Beeindruckendes leisten kann. Wer sich die über 400 Seiten nicht in einem Zug zutraut, kann ohne Probleme nach jedem der mal fünf, mal fünfzehn Seiten langen Unterkapitel eine Pause einlegen. Aus der Hand legen wird man dieses Meisterstück allerdings nur ungern.

Guy Delisle:
Geisel
Reprodukt-Verlag 2017
432 Seiten
29,00 €

(Interview & Übersetzung: Frank)
(Illustrationen: © Guy Delisle / Reprodukt)


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