Für wen ist das Theater da?

 

Während die meisten Theatersäle leerer werden und sich auf die Sommerpause einstimmen, verlegte das Deutsche Nationaltheater (DNT) seinen Aufführungsort ab Mitte Juni an das Weimarer E-Werk, ein altes Elektrizitätsgelände und zeigte bis zum Ende der Saison Mitte Juli „Die Räuber“. Theater mit einer schrillen, modernen Ästhetik. Und: Theater im offenen Raum.

Theaterschaffende schaffen nicht nur Kunst, nicht nur Theater, sondern auch Räume. Aber für wen sind diese Räume da und was kann, soll dort passieren? Je nachdem in welchem Kontext man über Theater spricht, wird man mit verschiedenen Vorurteilen, Vorwürfen, Hoffnungen und Ängsten konfrontiert. Warum spricht Faust Denglisch, wieso rennt der Hauptdarsteller schon wieder nackt über der Bühne und wer spricht heutzutage eigentlich noch im Versmaß: Die Kritik am Theater heute reicht von zu modern und politisiert bis hin zu dem Vorwurf, da werde nur altmodischer Sexismus auf die Bühne gebracht. Unsere unique-Redakteurin arbeitet sich an den Klischees, die an das Theater herangetragen werden, ab und fragt den Generalintendanten des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Hasko Weber, wie es im Theater um die Beziehung zwischen Theater und Publikum steht.

unique: Aktuell findet in Weimar wieder das Sommertheater statt. Dabei werden bekannte Stücke meist etwas komödiantisch und mit Aktualitätsbezug inszeniert, sodass diese auch für Personen zugänglicher sind, die nicht alle zwei Wochen ins Theater gehen und sämtliche Referenzen verstehen. Da stellt sich die Frage: Für wen ist das Theater (in Weimar) überhaupt da und an welches Publikum möchte es sich richten?

Hasko Weber: Ich möchte an die letzte Anmerkung anschließen: In einer großen Stadt mit 200.000 Einwohner*innen oder mehr ist es für viele Einrichtungen und auch das Theater eher eine Frage, wie sie sich profilieren. In den meisten anderen Städten ist Theater per se für alle da und das würde ich auch für uns absolut unterschreiben. Dies gilt für alle Altersgruppen, für alle Herkünfte, für alle sozialen Aspekte. Eine solche Situation bildet sich in Weimar ab. Die Gruppe derer, die sich als großbürgerlich verstehen, ist, glaube ich, in Weimar extrem gering. Weimar verfügt über eine gemischte Stadtgesellschaft, insofern sind bessergestellte, akademisch gebildete Schichten in unserer Besucherstatistik nicht unbedingt maßgeblich.

Theater schreiben sich auf den Banner, politisch zu sein, kritisch auf die Gesellschaft zu blicken. Gleichzeitig wird ihnen vorgeworfen, dass sie sich nur an eine kleine intellektuelle Elite richten, Theater also gar nicht für alle Personen inhaltlich zugänglich sind. Sie waren schon an verschiedenen Theatern in Deutschland, ist das ein Spannungsfeld, das Sie wahrnehmen?

Würde ich für uns nicht sagen. Dass jemand nach einer Aufführung sagt, er hätte keinen Zugang dazu gehabt, weil es ästhetisch auf die Spitze getrieben ist, entspricht nicht unserem Programm. Aber es leben ja Klischees in allen möglichen Richtungen.

Ich würde es anders beschreiben. Was wird vom Theater erwartet: erfahrungsgemäß suchen sich alle die Angebote heraus, die ihren Interessen entsprechen. Da wird es natürlich für ein Theater kompliziert, sich zu spezifizieren. Wenn man wirklich alle ansprechen will, sollte das Angebot auch für alle ansprechend sein. Spezialisiere ich das Programm, habe ich in einer kleineren Stadt mit 65.000 Einwohnern ein Riesenproblem. Das ist in Stuttgart, Hamburg oder Berlin ganz anders. Da findet experimentelle Arbeit immer eine größere Gruppe von Interessent*innen, die ganz speziell daran interessiert sind. Diese Gruppe ist hier zu klein. Heißt nicht, dass wir nicht experimentieren, aber die Balance muss stimmen.

Angenommen ich wäre noch nie im Theater gewesen und jemand würde mich mitbringen. Ist es dann wichtig, dass ich den Originaltext vorher kenne, um das Stück überhaupt zu verstehen?

Ich würde erstmal davon ausgehen, dass Theater funktionieren sollte, ohne dass man vorher irgendetwas weiß. Da ist es natürlich, dass ich ein anderes Erlebnis habe, als jemand, der sich mit dem Stoff vertraut gemacht hat und präpariert in eine Aufführung geht. Wobei das auch hinderlich sein kann, denn jede Vorbereitung heißt, ich baue eine gewisse Erwartungshaltung auf. Finde ich diese dann in der Aufführung wieder oder finde ich sie nicht wieder? Ich kann vorbereitend den „Faust“ lesen, aber bleibe ich damit neutral? Das geht, glaube ich, nicht, denn schon meine Lektüre ergibt eine Bewertung. Mir ist jedes Publikum willkommen, das sich vorbereitend mit Musik oder Theater beschäftigt. Ich wünsche mir aber auch, dass sich jeder überlegen kann: ich mach das heute Abend mal, ich geh ins Theater! Ohne jegliche Vorbehalte.

Ist es denn überhaupt ein Ziel, ein Theaterstück zu verstehen?

Man kann sagen „Ich habe das verstanden“ und dann kann es sein, dass andere das auch sagen, aber etwas ganz anderes verstanden haben. Genau das ist der Punkt. Schon allein herauszufinden, dass das, was man empfängt von anderen gar nicht geteilt wird, ist interessant. Man navigiert und findet seine eigene Position. Es ist anderes als bei einem Rockkonzert, wo klar ist: Ich kenne die Band. Das bedeutet eine andere Einheitlichkeit, eine andere Einstellung und somit eine starke energetische Konfrontation zwischen Bühne und Publikum. Es werden die Titel gesungen, die ich kenne und daraus leitet sich eine innere Bestätigung ab. Das ist ein starkes Konzept. Theater funktioniert fragiler.

Tut man dem Theater denn unrecht, wenn man sagt, es sei etwas rein Intellektuelles und warum?

Das würde ich tatsächlich nicht unterschreiben. Warum sollte ein Sinfoniekonzert vorsätzlich etwas Intellektuelles sein? Es ist ein musikalisches Erlebnis. Auch der Tanz entwickelt ganz ohne Worte eine starke Sprache, die über den menschlichen Körper transportiert wird und mit der jeder etwas anfangen kann. In unserem Spielplan haben wir eine Inszenierung, die sich mit den Aktivitäten der Treuhand und der Kalihütte Bischofferode beschäftigt, die in den 90er Jahren geschlossen werden musste. Das hat ganz viel mit einer Lebenssituation, mit einer Erfahrung zu tun, die Menschen im Osten gemacht haben. Das triggert total, ist aber nichts Intellektuelles und für eine bestimmte Generation zugänglicher als beispielsweise für eine Schulklasse. Ich würde aber sagen, dass man, wenn man eine Bereitschaft zu geistigen Herausforderungen entwickelt, Theater ein sehr guter Angebotsraum ist. Wenn ich keinen Bock habe, dann muss ich auch nicht hingehen.

Ein weiteres Vorurteil: Inwiefern bildet das Theater und die Theaterwelt ihrer Meinung nach eine in sich geschlossene und um sich kreisende Blase?

Ich finde den Begriff Blase nicht treffend. Wie selbstbezogen man durch konzentrierte Arbeit wird, das muss man immer wieder prüfen. Theater und Kunst überhaupt haben wahnsinnig viel mit Konzentration zu tun. Wenn eine Gruppe Sänger*innen und ein Chor und ein Orchester gemeinsam agieren sollen, dann brauchen sie Zeit, einen Raum, ein Budget und Konzentration. Diesem Konzept folgen wir mit unserer Arbeit am DNT und ich würde es als geschützten Raum bezeichnen, in dem Kunst frei entsteht. Das ist auch zeitgemäß.

Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie den Spielplan erstellen: Spielt es da eine große Rolle, welche Publikumsgruppen abgedeckt sind? Und gibt es Themen und Werte, die besonders relevant sind, bei denen sich das DNT in einer Verantwortung sieht, diese in den Spielplan einzubringen?

Na klar spielt das eine Rolle. Es ist nicht egal, ob man in Weimar oder in Rostock ist. Das sind völlig verschiedene Städte, völlig andere Menschen, unterschiedliche Mentalität und Themen, die ein anderes Selbstverständnis ergeben. Wenn man das als Theater ignoriert, kann man einpacken.

Es gibt in Weimar die Verpflichtung, sich mit dem klassischen Erbe auseinanderzusetzen, sowohl im literarischen Bereich, als auch im musikalischen. Das Musiktheater hat eine große Tradition, die Staatskapelle ist seit mehr als 400 Jahren hier verortet, aber Tradition bedeutet nicht, dass man konventionell mit dem Erbe umgehen muss, sondern, dass man immer wieder neue Interpretationen versucht. Für den „Faust“ gilt das ebenfalls. Goethe und Schiller stehen vor dem DNT, das erzeugt eine Erwartung, dass wir uns immer wieder mit Goethe und Schiller auseinandersetzen. Das finde ich auch gut. Das Pendent dazu ist natürlich das Neue – die Uraufführung, das Ausprobieren bisher nicht geübter Musikstücke oder Dramen. Inzwischen haben wir zudem eine gewisse Vielfalt an Formaten – von der musikalischen Aufführung im Kindergarten bis zum großen Sinfoniekonzert. Das meinte ich vorhin mit Balance: Eine ganze Spielzeit voller Uraufführungen wäre in Weimar wahrscheinlich waghalsig. Es gilt zu balancieren, mit und für die Zuschauer*innen: Wo will ich mich auf etwas Neues einlassen oder wo will ich in dem bestätigt werden, was ich erwarte?

Wie soll man den einen Goethe, einen Schiller heute inszenieren? Was muss da anders sein?

Anders als was? Wer war denn bei der Uraufführung, um Vergleiche anstellen zu können?

Sie setzen sich doch sicher mit den Debatten um Kanon, toxische Männlichkeit, der ganzen Kritik an den Klassikern auseinander, haben jetzt aber ganz selbstverständlich gesagt, sie finden es gut, dass Goethe und Schiller immer wieder gezeigt werden. Warum und wie?

Wenn man die Diskurse einer Gesellschaft betrachtet, haben sich diese seit es den „Faust“ gibt, in allen Richtungen entwickelt oder aufgelöst, aber der „Faust“ hat als Text überlebt. Ich bin sicher, dass dies so bleiben wird. Bewertungskriterien ändern erstmal nichts daran, dass es sich um eine starke Literatur handelt. „Faust“ ist Form, nicht nur Inhalt. Es geht nicht um einen toxischen Mann, sondern es geht um die katastrophale Auflösung des Ichs, der Person. Das zeigt sich im zweiten Teil des „Fausts“ deutlich und führt bis in den Tod. Das ist die Konsequenz, das komplette Scheitern seines Prinzips.

Das muss nicht heißen, alles, was im „Faust“ steht, ist richtig. Faust ist nicht das non plus ultra der Welt, sondern ein spektraler Blick auf die Existenz. Andere Literaturen haben sich über die Zeit völlig verloren, was nicht heißt, dass sie nicht auch noch relevant wären, sie sind nur nicht geübt worden, sie haben keine Rezeptionsgeschichte. Ich halte es für gefährlich, Rezeptionsgeschichte zu ignorieren. Egal welche Position man einnimmt, es ist eine Sache, es ist ein Stück, es ist ein Text. Und wenn man einen Text inszeniert, dann muss man sich festlegen: kritisch, bestätigend, visionär oder reproduzierend. Entscheidend ist die Bewertung durch das Publikum, der Zeitgeist. Diese Bewertung bestimmt den Austausch im Theater. Alles, was sich in den Köpfen oder den Emotionen der Zuschauer*innen abspielt.

Wie politisch ist das Theater denn überhaupt? Muss es das immer sein?

Das Theater ist per se politisch, ob ich eine Operette spiele oder eine Aufführung, die sich mit der Roten Armee Fraktion beschäftigt, weil es in die Öffentlichkeit wirkt und weil ein von der Gegenwart aufgeladenes Publikum der Empfänger ist. Nehmen wir die Oper Caligula: Der Stoff behandelt einen Einzelherrscher, der seinen Überwachungswahn so weit treibt, dass er selber daran scheitert. Das haben wir vor zwei Jahren geplant. Dann hatten wir die Premiere und zwei Wochen ging in der Ukraine ein Krieg los. Damit setzte eine neue Debatte zu verschiedenen Gesellschaftsformen ein. Der Blick auf das Stück veränderte sich extrem. Insofern gilt für Literatur, Theater, Medien, für jede Art der Kunst, dass der zeitliche und gesellschaftliche Kontext ständig wechselt. Ich habe nichts fest in der Hand. Ich habe auch den „Faust“ nicht fest in der Hand. „Faust“ ist eigentlich ein Phantom. Er wird nur manifest, wenn ich ihn in Zusammenhänge stelle. Das geschieht aus unserer Gegenwart und unserem Verständnis derselben heraus. Wenn man dieses Verständnis mit dem Publikum teilen kann, ist das sehr schön. Wenn das nicht teilbar ist, ist es ein Scheitern.

Vielen Dank für das Gespräch.

 Das Interview führte Eva.

Hasko Weber

Hasko Weber ist Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar und Co-Vorsitzender der Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins. Nach seinem Studium sowie ersten Verpflichtungen als Schauspieler und Regisseur wirkte er von 1993 bis 2001 als Schauspieldirektor am Staatsschauspiel Dresden. Ab 2003 war er Hausregisseur, von 2005 bis 2013 Intendant des Schauspiels Stuttgart. Gastregien führten ihn u.a. an die Theater in Karlsruhe, Mannheim, Saarbrücken, Hannover, Bochum, Chemnitz sowie ans Berliner Ensemble, ans Deutsche Theater Berlin und Teatre Romea in Barcelona.

 

Wer geht ins Theater?

Besucheranalyse (2019)

Besucher*innen

–           aus Weimar: 44,5 %

–           aus Thüringen: 28,40 %

–           Touristen: 27,1 %

Publikumsanteil Kinder /Schüler*innen / Studierende 26,3 %:

–           davon Kinder & Schüler*innen: 17,3 %

–           davon Studierende: 9 %

„Zu dem Begriff Zielgruppe: Ich wäre da extrem vorsichtig, weil man, wenn man so denkt, sofort Leute ausschließt. Gerade bei Altersfragen. Die Generation der Bürger*innen über 60-65, die wird schnell mal unterschätzt. Das sind Leute mit einer riesen Erfahrung, auch mit großem Wissen, mit einer ganz gezielten Auswahlfähigkeit, was sie eigentlich wollen. Wenn man es so fokussiert, lässt man automatisch eine ganze Reihe von möglichen Interessierten außen vor und das ist ein Problem.“ (Hasko Weber, Generalintendant Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar)


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