Nordseepiraten

Das Theaterprojekt Die Fischer des Freie Bühne Jena e.V. macht aus der Unübersichtlichkeit globaler Zusammenhänge zwischen Flucht, Piraterie und Europa eine inszenatorische Tugend.

von Carolin

Somalia und Piraterie: Diese beiden Begriffe erscheinen medial inzwischen beinahe zwangsläufig verknüpft. Die Berichte von Überfällen auf Frachtschiffe der westlichen Industriestaaten durch „moderne Piraten“, wie der Spiegel 2013 titelte, mehren sich. Daneben steht das Bild des Fluchtlandes – mehr als 900.000 somalische Flüchtlinge zählte das UNO Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) 2011 in den angrenzenden Nachbarstaaten. Somalia ist eines der ärmsten Länder der Welt und seit dem Staatszerfall im Jahr 1991 politisch zerrüttet. Als Hintergrund wird diese Situation jedoch selten in den Blick gerückt; man arbeitet sich scheinbar unermüdlich an den Symptomen ab – an Flucht und Kriminalität. Das Theaterstück Die Fischer, das im Juni in Jena aufgeführt wird, versucht, diesen Hintergründen im Zusammenhang mit Migration und Piraterie auf kaum realistische, dafür umso unbequemere Weise nachzugehen.
Sowohl die „Flüchtlingsdramen“ als auch die Vorfälle von Piraterie spielen sich in räumlicher Distanz zu Zentraleuropa ab und sind folglich für uns immer nur als bereits medial aufgearbeitete Geschichten, also Deutungen, verfügbar. Es darf somit Zweifel daran bestehen, dass sich die Ursachen für diese Phänomene vom Standpunkt des hiesigen Zeitungslesers her überhaupt abschließend verstehen lassen. Zweifellos aber ist der europäische Wohlstand mit der Problematik verknüpft: Die Überfischung der Weltmeere veranlasste unter anderem die EU dazu, Fischereirechte von afrikanischen Staaten zu erwerben, da die eigenen Ressourcen weitgehend ausgebeutet waren. Der heutige massive Fischfang vor der afrikanischen Küste hat negative Folgen für die Umwelt sowie für die traditionelle Fischerei von Küstenländern wie Somalia.
Um sich dem komplexen Thema zu nähern, setzt Die Fischer bei der Irritation an. Die Verhältnisse auf der politischen Weltkarte kehren sich um. So wird der Ausgangspunkt der Flucht des Protagonisten Meyer an die Nordseeküste Deutschlands verlagert. Die Nordsee ist ausgefischt, die Bevölkerung ausgezehrt und verroht. Meyer zieht es in eine unscharf umrissene, wohlhabende andere Welt, die eine Sprache der Ökonomie und Effizienz spricht. Um dahin zu gelangen, schließt er sich einer Gruppe von Piraten an, die anders als er nicht die Flucht in, sondern den Raub an derselben „neuen“ Welt beabsichtigt. Piraterie wird hier als – wenngleich fragwürdige – Variante vorgestellt, aktiv nach Verbesserung der eigenen Lebenssituation zu streben und strukturelle Ungerechtigkeit zu überwinden. Mit der Biografie Meyers, der opportunistisch vom Piraten zum Flüchtling wird, verlässt das Stück die sicheren Gewässer des politisch Korrekten. Aber eben auch die des dramatischen Realismus.

Vertrautes fremd machen
Zur Recherche griff das Ensemble unter der Regie von Maik Pevestorff auf Zeitungsartikel, Monografien, Schilderungen von Menschen mit „Migrationshintergrund“, Videoreportagen, Fotografien zurück – und damit auf bereits wertende Beschreibungen der Wirklichkeit. Diese sollen indessen nicht einfach reproduziert werden. Die Inszenierung stellt den Versuch dar, mithilfe der Verfremdung zu verstehen, wie sich die Lebenssituation der somalischen Bevölkerung gestaltet, die offenbar Verhaltensweisen zu Tage fördert, die waghalsig das eigene Leben und das anderer gefährden und rechtliche wie moralische Grenzen überschreiten. „Gerade die unmittelbare Auslieferung des Einzelnen an seine gesellschaftliche aber auch ökologische Umwelt, ohne Staatsapparat, wie dies in Somalia der Fall ist, hat mich interessiert“, erklärt der Autor des Stückes Pevestorff. „Wie handeln Menschen in solchen Situationen? Welche Bedürfnisse, Träume oder Utopien haben sie? Woran glauben sie? Und wie ist es möglich, unter diesen Bedingungen moralische Werte aufrecht zu erhalten?“
Die Vermischung der Perspektiven einer europäischen Wohlstandsgeneration und jener der somalischen Jugend, die im Bürgerkrieg aufwuchs, erscheint kontrovers. Doch macht gerade diese Parallelisierung eines offenbar: Die in Europa selbstverständliche Mobilität meint gleichsam die selbstbestimmte Gestaltung unseres Lebens und damit dessen Freiheit. In anderen Teilen der Erde zu leben, studieren und arbeiten – zumindest aber die Möglichkeit, dies zu tun – prägt das Selbstverständnis der hiesigen Jugend. Diese Chance wird jedoch nicht allen Menschen gleichermaßen zuerkannt. An der Oberfläche zeugt davon schon eine lexikalische Unterscheidung: Aus Mobilität wird, sobald der „Startpunkt“ auf bestimmte Erdteile verlagert wird, Migration oder Flucht. Dabei ist in beiden Fällen die Bewegung von einem Land in das andere an die Hoffnung geknüpft, dort neue, bessere Perspektiven aufzufinden, oder schlicht: das eigene Leben in die Hand zu nehmen.
Im Stück werden daher heiter die Rollen gewechselt vom Wohlstandskind zum Nachwuchspiraten und die Schauplätze vom rauen Hafen Norddeutschlands zu afrikanischen Gerichtsräumen und fantastischen Nicht-Orten zwischen Dystopie und Utopie. Verwirrung, Komplexität und Ambiguität prägen die Inszenierung, die keineswegs den Anspruch erhebt, die globale gesellschaftspolitische Lage, die Piraterie sowie Migration und Flucht hervorbringt, zu erklären. Vielmehr will es Fragen in den Raum stellen, um mit ihnen einen Dialog über Asylpolitik in Deutschland und unsere Perspektive auf die „Betroffenen“ zu provozieren, der sich von gewonnenen Klischees und Voreinnahmen freistrampelt, soweit es eben geht. Die Möglichkeiten hierzu schafft auch die Interaktionswoche zu Die Fischer, in der nicht allein das Stück aufgeführt und diskutiert wird, sondern im Rahmen von Workshops und gemeinsamen kreativen Aktivitäten Möglichkeiten zum Austausch geschaffen werden. So wird es ein interkulturelles Abendessen und eine Open Stage geben. Auch spielte für die Stückentwicklung die Perspektive und Teilnahme von Menschen mit Migrationshintergrund und Asylbewerber in Jena eine entscheidende Rolle. So suchte das Ensemble etwa während der Recherche- und Probenphase den Kontakt zu Bewohnern der Jenaer Gemeinschaftsunterkunft in der Schulstraße.

Trailer zu \“Die Fischer\“ auf YouTube

Theater als Denkexperiment
Damit das Resultat auch außerhalb der Kreise der schon Interessierten und Aktiven im Bereich Asylpolitik wahrgenommen wird, wandte sich das Projekt unter anderem dezidiert an Schulen. Einzelne Vorführungen für Schulklassen werden in Workshops nachbereitet, um Fragen zu verbalisieren, die Handlung und Visualisierung von Die Fischer aufwerfen. Die Antworten soll nicht das Stück selbst liefern, sondern der Austausch darüber. Dazu muss die Kunst gleichwohl vom Podest gezerrt werden: „Unser Ziel ist es auch, Kultur in der Begegnung zu leben“, erklärt Pevestorff. „Kultur ist in dem Sinne kein Etikett oder anbetungswürdige Kunst, sondern respektvoll, neugierig und den verschiedenen ästhetischen Dimensionen gegenüber offen.“
„Hier ist nichts mehr zu fangen“, schallt es im Stück einem alten Fischer entgegen, der noch an die vormalige Weltordnung glaubt und daran, an seinem angestammten Ort etwas erreichen oder wenigstens überleben zu können. Jene vermeintliche Alternativlosigkeit ist es auch, der die diskrepanten Rollen des europäischen Wohlstandsbürgers und des afrikanischen Flüchtlings und/oder Kriminellen entspringen. Ihr setzt das Spiel in Die Fischer eine Menge absurder Elemente, Verwirrung, Fragezeichen und Humor entgegen. Es ist ein Versuch, einem politisch brisanten und medial vorbelasteten Thema mit der Unbefangenheit des Denkexperiments zu begegnen. Von Opfer-Passivierungen sieht es in jeder Hinsicht ab und fragt stattdessen alle Akteure gleichberechtigt nach Verantwortung und Möglichkeiten der Einflussnahme. Man spielt miteinander. Und zieht dabei die Samthandschuhe aus.

Die Interaktionswoche zu Die Fischer findet vom 17. bis 21.06.2014 in der Imaginata statt. Weitere Informationen unter:
http://projektdiefischer.de. Tickets gibt’s im „Fat Lady“-Späti und im Buchantiquariat „Blechtrommel“ (Wagnergasse 14).

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