Emotionaler Extremsport

Außenposten ALPHA-14. Foto: © NeoTHOMs

Beim Nordic Larp können Erwachsene jemand anderes sein und sich dabei mit Themen wie Totalitarismus auseinandersetzen. Ein Erfahrungsbericht aus einer fiktiven Welt.

von Lara

Der Raum hat keine Fenster, die Risse in den Wandfliesen sind schwarz vor Dreck. „I will give my life for the BLOC“ steht auf einem Poster, ein anderes zeigt eine Bombe mit der Aufschrift „our sacrifices“, die auf den Feind stürzt. In zwei Reihen stehen Soldaten stramm, die Faust aufs Herz gepresst. So stark zitternd, dass ich mich gegen die Wand stützen muss, lehne ich zwischen hervorstehenden Nägeln und singe. Früher mal war die „Glorious Anthem“ ein sowjetisches Kriegslied. Jetzt, mit neuem Text, ist sie die Hymne eines Staates, der sich soeben gegen mich gewandt hat. Außer Beten ist sie alles, was ich habe. Ich klammere mich an die Musik, als ob mir, wenn ich nur laut genug singe, nichts passieren kann und alles wieder wird wie vorher.
Ein paar Stunden später bin ich tot. Ich habe in der Zwischenzeit am Boden gelegen, eine Waffe an meiner Schläfe gespürt und einen Freund erschossen. Auch wenn alles davon gespielt war, war die physische Wirklichkeit der Fiktion so überwältigend, dass die Angst und Verzweiflung der letzten 24 Stunden real geworden sind. „Larp kann eine außergewöhnliche Erfahrung sein, emotional viel stärker als Filme oder Bücher“, beschreibt JC, Autor und Produzent des Live Action Role Play (kurz Larp) NEXUS-6, das ein Wochenende lang einen verlassenen Freizeitpark bei Paris in die Front eines aussichtslosen Krieges verwandelt hat. 24 Spieler aus ganz Europa und zahllose Helfer haben gemeinsam Geschichten der Soldaten des fiktiven Staates BLOC erzählt, die mit Hass und Softair-Waffen gegen einen weit überlegenen Gegner kämpfen. Doch was sie zerstört, ist nicht der äußere Feind, sondern der Wahnsinn eines übermächtigen Staates. „Totalitarismus hat mich schon immer fasziniert“, so JC, „und NEXUS-6 ist im Grunde ein Larp über dieses Thema.“

Umstrittene Kunstform
Improvisationstheater ohne Publikum, eine erwachsene Version kindlicher Phantasiespiele, Pen & Paper-Rollenspiel physisch umgesetzt – Erklärungsversuche, was genau Larp eigentlich ist, gibt es fast so viele wie Genres und Formen. Nordic Larp, die ursprünglich von Skandinavien ausgehende Szene, als Teil derer sich auch NEXUS-6 versteht, wird oft als Arthouse-Sparte des Liverollenspiels bezeichnet: Statt um reinen Spaß und Gewinnen geht es hier um Erfahrungen und partizipatives Erzählen; für einige ist Rollenspiel nicht nur ein Hobby, sondern eine Kunstform. „Larp ist ein machtvolles Ausdrucks- und Gestaltungsmittel“, findet auch JC. Die Stärke liegt darin, dass Geschichten sich nicht nach dem Plan eines Autors entwickeln, sondern spontan aus den Handlungen, Entscheidungen und Gefühlen der Charaktere heraus. Oft geht es in Nordic Larps um ernste Themen und die persönliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. In den nordischen Ländern werden viele Liverollenspiele staatlich gefördert, in Dänemark sogar im Schulunterricht eingesetzt.
Außerhalb Nordeuropas hingegen ist Nordic Larp eine Nische in einer Nische: Wer hierzulande an Liverollenspiel denkt, hat meist das Klischee realitätsfremder, als Elfen und Orks verkleideter Nerds vor Augen, die sich zu Zwecken des Eskapismus Latexschwerter um die Pappohren schlagen. „Wir sind leider noch sehr weit von einer Situation entfernt, in der Larp sozial akzeptiert ist“, meint JC. Seinen wirklichen Namen möchte er in diesem Artikel nicht genannt wissen – aus beruflichen Gründen: „Hier in Frankreich gilt Larp nicht als normale, gesunde Aktivität für einen verantwortungsbewussten Erwachsenen. In der ‚seriösen Branche‘, in der ich arbeite, würden viele Kollegen mich beruflich nicht mehr ernst nehmen.“ Trotzdem spielt und organisiert er seit vielen Jahren Rollenspiele, NEXUS-6 ist sein erstes größeres Larp. In Courdimanche, etwa eine Autostunde außerhalb von Paris, hat er dazu eine eigene kleine Welt errichtet.
Vor etwa 30 Jahren war Mirapolis ein Themenpark. Heute sind alle Attraktionen fort, und was an Gebäuden übrig ist, haben Unkraut und Trümmer schon lange eingenommen. Als ich am Freitagnachmittag durch den Park laufe, bereits teilweise in meiner aus dem Second-Hand-Shop zusammenimprovisierten Uniform, kann ich mir durchaus vorstellen, in einem Kriegsgebiet zu sein. Auf den ersten Blick erscheint der BLOC als ein etwas platter Archetyp eines totalitären Staates: Komplett mit quasi-religiösem Personenkult um den „Supreme Leader“, einer zu jeder Gelegenheit mit der Faust auf der Brust zu singenden Nationalhymne und dem Propagandablatt OmniBLOC, dessen Lektüre für jeden Bürger verpflichtend ist. Bald wird mir klar, dass das nur das Grundgerüst ist. Wie beim Lesen eines Buches ist jede Unterhaltung und jede Erinnerung an die Vergangenheit ein Stück world building, und als Spieler improvisieren wir eine Gesellschaft zusammen, die von Szene zu Szene an Schärfe und Glaubwürdigkeit gewinnt.
Mein Charakter Xyoni – meist „Soldat CD-K-776“ genannt – war vor dem Krieg Mechanikerin mit einem Freund und einer Zukunft. Seit zwei Jahren ist sie Kanonenfutter. Auch wenn die Handlung fast vollständig in der Hand der Spieler liegt, sind Figur und Ausgangssituation von den Organisatoren geschrieben. Für Xyoni beginnt NEXUS-6 auf der Flucht. Nach Wochen der Kriegsgefangenschaft wird sie auf dem Außenposten ALPHA-14, wo sie für die Dauer ihrer kurzen Existenz noch stationiert sein wird, mit Misstrauen und einem harten Umfeld empfangen. Militärischer und ideologischer Druck durch die Offiziere und den politischen Kommissar trifft auf einen Mangel an medizinischer Versorgung, Nahrung und Personal. In den 24 Stunden ununterbrochener Spielzeit bekomme ich sechs Cracker zu essen und eine Stunde Schlaf. Für Fehltritte, für jedes unbedachte Wort gibt es Strafen: von Liegestützen über simulierte Schläge bis zu der allgegenwärtigen Gefahr, zum „Enemy of the People“ erklärt und ins Straflager geschickt zu werden – de facto ein Todesurteil.

Zu zweit in einem Kopf
Um in psychisch fordernden Szenen die Kontrolle zu behalten, existiert ein Netz an Sicherheitsmechanismen, die in Workshops vor Spielbeginn eingeübt werden: Mittels farbiger Markierungen an der Kleidung können Spieler ihre Grenzen signalisieren, ein System von Codewörtern erlaubt eine Anpassung der Spielintensität, und in einem designierten Off-Game-Bereich gibt es jederzeit reichlich Essen, einen Schlafplatz und Organisatoren zum Reden und Umarmen. „In einem Larp, das auf eine extreme Erfahrung abzielt, müssen die Teilnehmer sich selbst und andere fordern können, sowohl physisch als auch emotional“, erklärt Organisator JC. „Das ist nur dann ohne Gefahren möglich, wenn sie sich gegenseitig vertrauen und über Mittel verfügen, um die Intensität einer Szene zu kontrollieren.“
Bedenkt man, dass es kaum Regeln und keine Möglichkeit zu gewinnen gibt, bewegen sich Nordic Larps wie NEXUS-6 in den Randbereichen dessen, was man Spiel nennen kann. Erfahrungen, die Gewalt, Unterdrückung und Rassismus thematisieren, machen keinen Spaß im klassischen Sinne. Der Reiz, den das Spielen extremer Situationen ausübt, liegt vielmehr in emotionalen Grenzerfahrungen: Intensive und kathartische Gefühle können einen Anstoß geben, sich zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. „Vorzugeben, jemand anderes zu sein, kann einem Einsichten über sich selbst vermitteln, weil man immer etwas von sich selbst in den Charakter einbringt”, so JC. Manchmal gibt der Charakter auch etwas zurück: Wenn die Grenzen zwischen Spieler und Gespieltem verschwimmen, sprechen Larper von Bleed. Das kann bedeuten, im Charakter echte Tränen zu weinen oder sich in den Spieler seines in-game-Partners zu verlieben, aber auch einfach, sich zu erschrecken oder von einer starken Rolle Selbstbewusstsein zu lernen.
Solche Momente sind es, die eine wirkliche persönliche Auseinandersetzung mit den bespielten Themen erlauben. Immer wieder stelle ich mir die Frage, inwieweit ich für die Handlungen meiner Figur mitverantwortlich bin. Die Fiktion liefert ein starkes Alibi, das dem Charakter erlaubt, Dinge zu tun, die für den Spieler selbst undenkbar wären. Doch die Empathie mit dem Charakter konfrontiert den Spieler mit der eigenen Fähigkeit zur Grausamkeit: Xyoni tötet Menschen, um zu überleben und denunziert andere, um nicht selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Es ist, als teilen sich zwei Personen meinen Kopf, die zum Teil völlig widersprüchliche Vorstellungen von rationalen Handlungen oder von richtig und falsch haben. Der Perspektivenwechsel erlaubt einen neuen Blick auf unsere Entscheidungen: Im Alltag stecke ich in der Situation fest, im Rollenspiel hingegen kann ich handeln und gleichzeitig meine Handlungen aus Distanz reflektieren.
Dieser Effekt macht Larps zu starken Trägern für politische Botschaften. Es gibt Spiele, die die palästinensische Besatzungszone oder die AIDS-Epidemie der 80er Jahre thematisieren, Settings reichen vom Gefängnis über Flüchtlingslager bis zum Altersheim. Bücher brennen zu sehen oder mit knurrendem Magen in die Kamera des Propagandateams zu strahlen und dabei von gutem Essen im Übermaß zu schwärmen, verändert meinen Blick auf Probleme, die ich bislang aus intellektueller Distanz betrachtet habe. Ein besonders eindrückliches Beispiel in NEXUS-6 ist das Thema Rassismus: Der BLOC ist unterteilt in Bürger der Central Districts (CD) und der Auxiliary Districts (AD), abfällig „Scrapers“ genannt, die von Seiten des Staates und der CD-Bewohner systematisch diskriminiert werden. In einem nach gesellschaftlicher Herkunft aufgeteilten Workshop sollen wir vor Spielbeginn üben, abfällig über ADs zu sprechen. Es fällt uns allen schwer. Fiktion hin oder her – es ist unangenehm, bewusst gegen ein so fundamentales Tabu zu verstoßen. Irgendwann äußert jemand: „They’re like shrimps: everything’s good but the head“. Alle müssen lachen, ich lache mit. Mitlachen ist einfacher.

Uneigene Gefühle
Nachdem das Spiel losgegangen ist, gewöhne ich mich schockierend schnell an die Vorurteile. Xyoni ist keine aktive Rassistin, aber sie sieht weg und urteilt nicht. Je länger ich sie bin, desto stärker denke und fühle ich als sie. Das Larp endet mit dem Befehl, unbewaffnet in kleinen Gruppen zum Parteihauptquartier zu kommen. In einer Kammer, über deren Verwendung die Blutflecken an der hinteren Wand wenig Zweifel lassen, werden die Charaktere befragt, die meisten von ihnen hingerichtet. Eine der Wachen schießt Xyoni ins Knie. Ich schreie auf und greife mir ans Bein, und obwohl ich natürlich keine Schmerzen spüre, ist es nicht mehr geschauspielert – nicht im engeren Sinne. Ich denke nicht nach, sondern reagiere intuitiv auf den fiktiven Schmerz. Nach Xyonis Tod hinke ich erst einmal ein paar Meter bis mir bewusst wird, dass mein Knie völlig in Ordnung ist.
Kurze Zeit, eine lange Gruppenumarmung und sehr viel Pizza später sitze ich in einem Stuhlkreis und strenge mich an, das, was ich die letzten 24 Stunden erlebt habe, als fiktive Geschichte einer fremden Person aufzufassen. Das strukturierte Debriefing soll ermöglichen, mit dem als Charakter Erlebten abzuschließen, aber auch persönliche Erfahrungen auszutauschen. Mit meinen Mitspielern zu reden fühlt sich seltsam an: In den letzten Stunden haben diese Menschen mich getröstet, verraten und zusammengeschlagen. Jetzt frage ich sie nach ihren Namen – alle, die ich einigermaßen behalten hatte, sind mittlerweile mit denen der Charaktere überschrieben. Ich sitze zwischen Fremden und habe gleichzeitig das Gefühl, eine enge Beziehung zu ihnen zu haben.
Als ich Sonntagnachmittag durch Paris laufe, setzt die Erschöpfung ein. Adrenalin ist eine Droge: Potenziert durch Schlafmangel und Reizüberflutung kann es den Körper aufputschen und in einen Zustand versetzen, der Rauschmittel unnötig macht. Jedes Lied, das aus einem Café spielt, ja jedes rhythmische Geräusch, ist die „Glorious Anthem“, und im Rattern der Kofferrollen übers Kopfsteinpflaster höre ich Schüsse. Die Nacht verbringe ich im Bus. Ich bin so müde, dass es mir schwerfällt, einzuschlafen und so lausche ich den Gesprächen um mich herum. Auch wenn ich kein Wort Französisch verstehe, glaube ich, BLOC-Slogans herauszuhören. Als die Nacht fortschreitet, bleibt nur noch das monotone Geräusch der Räder, die über die Straße rattern – und darin, so leise, dass nur ich sie höre, die „Glorious Anthem“, die mich sanft in den Schlaf singt. Als ich aufwache, ist die Musik fort. Zurück bleiben Erinnerungen, die nicht meine eigenen sind.


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