„Weg von den Eisbären“

Flickr: Valerie

Christian Schwägerl spricht mit unique über die Anthropozän-Debatte, die Prognosefähigkeit der Forschung und die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus.

unique: Was ist für Sie an der Diskussion über das Anthropozän charakteristisch?
Christian Schwägerl: Die Diskussion unterscheidet sich sehr deutlich von den bisherigen Debatten über Umweltpolitik und Nachhaltigkeit. Deren Grundidee besteht darin, der Natur nicht mehr zu entnehmen, als nachwächst. Damit war zugleich vorgegeben, was zu tun ist. Dann kommt Anfang der 2000er Jahre der Begriff des Anthropozäns auf und durchbricht dieses klassische Naturverständnis, indem er die Frage aufwirft, ob nicht das, was wir Menschen schaffen, die Natur von morgen ist. Für China etwa werden Städte vorausgesagt, die sich über 2000 Kilometer erstrecken: Handelt es sich dabei nicht allein schon auf Grund der großen Fläche um eine neue Form der Natur? Die Diskussion über das Anthropozän gibt nicht die eine Lösung vor, sondern zwingt zu einer neuen Perspektive auf das Gesamtgeschehen. Sie kommt nicht mit klaren Botschaften daher. Das hat etwas Verunsicherndes und für viele Beängstigendes.

Die Möglichkeiten für Zukunftsvorhersagen sind enorm gestiegen. Wie genau schätzen Sie die Prognosekraft der Wissenschaft ein?
Das ist unterschiedlich. Von der NASA gibt es eine Simulation, die behauptet, das Aussehen des Nachthimmels, wenn die Milchstraße mit dem Andromeda-Nebel zusammenstößt, exakt vorausberechnen zu können – das ist in 3,7 Milliarden Jahren. Viel schwerer vorhersagbar wird es jedoch, wenn soziale Prozesse ins Spiel kommen. Und genau das steckt ja im Begriff des Anthropozäns: Die Zukunft der Erde ist massiv von unseren Entscheidungen abhängig geworden. Deswegen warne ich auch vor einem Prognosen-Determinismus: Wenn Wissenschaftler, Firmen, Politiker oder Medien etwas über das Jahr 2050 behaupten, wird zu selten hinterfragt, was die Annahmen, die Datenmenge, die Unsicherheitsfaktoren in der Berechnung sind. Die Gesellschaft sollte einerseits lernen, verlässliche Prognosen wie zum Klimawandel wirklich ernst zu nehmen. Andererseits müsste aber auch die Fähigkeit, bei Prognosen mit den Daten und dem Forschungsdesign kritisch umzugehen, viel stärker entwickelt werden.

Warum tritt die Wissenschaft oft mit einer solchen Sicherheit auf?
Das liegt an einem sehr schwierigen Spannungsverhältnis: Die Politik verlangt Sicherheit, um die Milliardeninvestitionen, die zum Beispiel im Zuge des Klimawandels notwendig werden, zu rechtfertigen. Die Wissenschaft kann aber keine letztgültige Sicherheit bieten. Sie weiß genug, um zu warnen; sie weiß aber lange noch nicht alles. Es kann zum Beispiel alles schlimmer kommen als prognostiziert. Ich bin dafür, dass die Wissenschaften viel stärker thematisieren sollten, was sie nicht wissen.

Wie muss sich unser Verständnis von Wissenschaft ändern, um für die Zukunftsprobleme, die in der Diskussion um das Anthropozän aufgeworfen werden, gewappnet zu sein?
Die Naturwissenschaften spielen eine große Rolle. Aber damit sich etwas verändert, braucht es ein neues und sehr viel weiteres Verständnis von Wissen. Am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin wird gerade diskutiert, wie wir von einem rein auf der Wissenschaft beruhenden und damit limitierten Wissen zu einem umfassenderen Begriff kommen, zu dem auch implizites, tradiertes, gefühltes und soziales Wissen zählen. Diese Formen des Wissens bestimmen unsere Entscheidungen und unser Verhalten viel stärker als aktuelle Zahlen.

Welche Rolle kann dabei dem Wissenschaftsjournalismus zufallen?
Ich denke, dass sich der Wissenschaftsjournalismus auch in dieselbe Richtung verändern muss – hin zu einem Wissensjournalismus. Auf der von mir mitgegründeten Journalismus-Plattform RiffReporter entsteht gerade ein Projekt, das den Arbeitstitel „Klima sozial“ trägt und der Frage nachgeht, wie Gesellschaften mit dem Klimawandel umgehen. Also weg von den Eisbären und Messergebnissen hin zu sozialen und psychologischen Prozessen und dem Erkunden, was Handlungsmotivationen beeinflusst. Das ist für mich eine wichtige Komponente des neuen Klimajournalismus.

Herr Schwägerl, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Peter Braun, Leiter des Schreibzentrums der FSU Jena und Dozent des Seminars „Wissenschaftsjournalismus am Beispiel des Anthropozäns“.

Christian Schwägerl ist studierter Biologe und Wissenschaftsjournalist. Seit über zwei Jahrzehnten publiziert er zum Thema Umwelt und Nachhaltigkeit. Sein Anthropozän-Buch Menschenzeit erschien 2010 im Riemann Verlag.


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