„Eine Distanz muss gewahrt bleiben”

Eine Überlebende mit Tablet 2015 © Gedenkstätte Bergen-Belsen

Eine Augmented Reality (AR) App erlaubt Besuchern, sich mit einem Tablet über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen zu bewegen und Lagergebäude virtuell in die Landschaft zu projizieren. Inzwischen haben auch Überlebende die neue Technik ausprobiert. Unique im Gespräch mit der Historikerin Stephanie Billib über Erinnerungskultur, die Möglichkeiten der Digitalisierung für Erinnerungsstätten und die Notwendigkeit, die Würde des Ortes zu wahren.

Das Interview führte Lara

unique: Frau Billib, Sie haben die AR-App von Beginn an begleitet. Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?

Stephanie Billib: Der Anstoß zu der Tablet App, wie wir sie intern nennen, kam nicht aus dem Haus selbst, sondern wurde von außen an uns herangetragen. Ein Enkel eines ehemaligen Häftlings hat bei einer größeren Veranstaltung die Gedenkstätte besucht und festgestellt, dass man vom Lager nichts mehr sehen kann: Das Gelände sieht verfremdet aus und erinnert eher an Wald- und Parkgelände. Als Leiter eines kognitionswissenschaftlichen Uni-Labs, das sich mit Computer- und Robotergeschichten beschäftigt, schlug er vor, dass man da doch etwas machen könne.

Wie wurde die Idee an der Gedenkstätte aufgenommen?

Die Entscheidung dafür war ein längerer Prozess. Am Anfang waren wir eher skeptisch: Was ist das für ein merkwürdiger Mensch, der uns irgendwelche Google Brillen aufschwatzen möchte? Sollen die Besucher dann comicartig das Lager in VR ansehen? Bloß nicht! Aber erst diese Verwunderung hat dazu geführt, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, um miteinander zu diskutieren. Dann haben wir verstanden, was er uns eigentlich zeigen möchte – und er hat auch etwas besser verstanden, wo unser Unbehagen liegt.

Wo lag dieses Unbehagen denn?

Ein großes Thema war, ob man einem Besucher zumuten darf, sich mit so einer Technik in ein Lager hineinzuversetzen. Unsere Befürchtung war, dass man auf einmal in diese Situation zurückgetragen wird. Da haben wir ganz klar gesagt: auf keinen Fall! Man darf bei der Benutzung nicht plötzlich emotional auf eine Weise getroffen werden, mit der man in dem Moment nicht umgehen kann. Die App soll Nutzer nicht immersiv in die Situation des Lagers zurückversetzen, sondern Orientierung geben. Über die Nutzung der App bekommt man eine bessere Vorstellung davon, wie die räumliche Situation des Lagers war – es werden die Positionen von Lagergebäuden und Zäunen angezeigt. Ein gewisser Abstand, eine bestimmte Distanz muss aber gewahrt bleiben.

© Gedenkstätte Bergen-Belsen

Ist es nicht ein wenig zynisch, deutschen Besuchern nicht die emotionale Überforderung zumuten zu wollen, einen winzigen Einblick in das zu erhalten, was andere Menschen – durch ihre Vorfahren verantwortet – real durchleiden mussten?

Vermutlich habe ich es am Anfang so formuliert, aber „zumuten“ ist hier das falsche Wort. Ich finde auch, dass man Nutzern schwierige emotionale Erfahrungen „zumuten“ kann. Aber wie genau kennen wir unsere Besucher? Ich will niemanden in Watte packen und sagen, „da sollten Sie sich lieber nicht mit auseinandersetzen, da kann man vielleicht eine Nacht nicht schlafen, das möchte ich Ihnen nicht zumuten“. Es geht um die psychische Komponente, die Traumata triggern und krank machen kann. Wir sind keine eindimensionale Gesellschaft mehr, da sind viele Leute mit Migrationshintergrund oder ganz vielen unterschiedlichen familiären Hintergründen. Ich kann nicht genau wissen, wer zu uns kommt und was da vielleicht ausgelöst wird.

Gedenkstätten in anderen Ländern sind deutlich weniger zimperlich, wenn es darum geht Besuchern eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie es war.

Ja, da besteht ein ziemlicher Unterschied zwischen deutscher Erinnerungskultur und anderen Ländern. Man hört oft aus Israel oder den USA, dass ganz anders an diese Erinnerung herangegangen und den Besuchern mehr „zugemutet“ wird. In Deutschland ist das schwer, denn wie auch unsere Gedenkstätte geht es vielfach um Orte, wo wir ganz klar die Opferperspektive hervorheben wollen. Die Täterseite spielt schon oft genug eine Rolle in dem, was wir über die Zeit lernen. Gerade in Deutschland weiß ich auch nicht, ob es angemessen ist, sich dem so annähern zu wollen. Ich glaube, dass es vielmehr für die Überlebenden nicht zumutbar ist, zu sagen der Besucher soll sich das vorstellen. Denn es geht über unsere Vorstellungskraft hinaus. Man nähert sich ja einer Vorstellung an, die man nicht erreichen kann.

Wie wirkt sich das auf die App aus?

Wir versuchen – und das ist vielleicht auch die typische Perspektive einer deutschen Gedenkstätte – recht zurückgenommen zu arbeiten, deswegen vielleicht auch diese sehr abstrakte Darstellung der Gebäude und Zäune. Wir überlassen die Einschätzung und Beurteilung dem Besucher selbst und geben – hoffe ich zumindest – nicht viel vor, lenken nicht in eine Richtung.
Obwohl ich das selbst für ein bisschen fragwürdig halte, da wir natürlich immer eine bestimmte Meinung für richtig halten. Persönlich finde ich, dass die Täterseite in der App bis jetzt noch zu kurz kommt. Das würde ich gerne mit in den Blick nehmen, damit Nutzer wahrnehmen, dass da noch etwas anderes als diese Häftlingsgemeinschaft und deren Perspektive war. Denn das, was wir eigentlich mitgeben möchten – eigenverantwortlich zu sein, Handlungsspielräume auszuloten und Entscheidungen zu treffen – hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was wir hier die ganze Zeit erzählen. Das passiert gerade auf dieser Mitläufer- und Täterseite; Opfer und Verfolgte hatten dazu keine Möglichkeit.

Wie könnte man diese Seite in einer AR App implementieren?

Das muss nicht unbedingt im AR Bereich dieser Anwendung liegen, sondern kann auch einfach zusätzliches Informationsmaterial sein, das wir geolokalisiert eingebunden haben. Im Moment funktioniert es so, dass man das Tablet trägt und dann vor sich die Lagergebäude sehen kann, sich also etwas im Gelände orientiert. Dazu haben wir georeferenzierte Dokumente überall verortet, über die man gewissermaßen stolpert. Wenn man sie anklickt, ist da eine Vielzahl von unterschiedlichen Dingen: Fotografien der Briten, Häftlingszeichnungen, Ausschnitte aus Tagebüchern. Aber im Moment ist kein einziges Dokument dabei, das bewusst etwas über die Täterseite, über Wachmannschaften oder die Verwaltung darstellt.

Kartenansicht der Tablet App © Gedenkstätte Bergen-Belsen

Welche Grenze zwischen sinnvollem Orientierungshilfsmittel und Pietätlosigkeit würden Sie nie überschreiten?

Ich glaube, dieses „nie“ ist gerade im digitalen Bereich ein ganz schwieriger Begriff. Als wir angefangen haben, hätten wahrscheinlich alle Kollegen gesagt, VR Brillen sind jenseits einer Tabulinie. Aber je stärker so etwas im gesellschaftlichen Kontext „normal“ und der Umgang damit vertrauter ist, umso leichter fällt auch Kollegen die Vorstellung, dass man so etwas auch in einer Gedenkstätte benutzen kann. Was im Moment immer noch ein Tabu ist, ist natürlich die Darstellung von Personen in solchen Situationen – vor allem von fiktionalisierten. Solange wir noch dabei sind, Namen und persönliche Informationen zu den Opfern eines Lagers herauszufinden, können wir nicht einen fiktiven Charakter in der Gedenkstätte verwenden.

Haben Sie auch Feedback von Zeitzeugen und Angehörigen erhalten?

Wir haben von Anfang an in der Entwicklung auch die Vertreter der Überlebendenverbände mit eingebunden, sie informiert und ihnen verschiedene Stadien der Entwicklung gezeigt. Die Überlebenden selbst fanden das überwiegend positiv – vor allem, wenn es hilft, junge Leute anzusprechen und deren Medien ihnen helfen, zu verstehen. Die Kindergeneration ist manchmal ein bisschen skeptischer. Das kennen wir auch in anderen Situationen und das ist völlig in Ordnung: Negatives Feedback und negative Rückmeldungen helfen, zu verstehen, wo Ängste und Bedürfnisse sind, auf die man eingehen kann.

Glauben Sie, dadurch, dass immer weniger Zeitzeugen leben, die ihre eigenen Erfahrungen einbringen können, werden solche innovativen Technologien an Bedeutung gewinnen?

Ich glaube, dass Besucher von Gedenkstätten oder Personen, die Zeitzeugen begegnet sind, auch über die persönlichen Erfahrungen dieses Menschen eine Brücke zu dem Thema finden. Das wirkt auf einer Mischung von kognitiver und emotionaler Ebene. Über solche digitalen Momente ist das nicht in derselben Form möglich, es erlaubt aber auch, sich der Situation anzunähern und eine emotionale Erfahrung zu machen.

Wie sehr glauben Sie, dass digitale Technologien unsere Erinnerungskultur beeinflussen?

Natürlich wird es die Erinnerungskultur verändern. Das bleibt nicht aus, einfach weil es unsere gesamte Gesellschaft verändert. Vor acht Jahren war völlig undenkbar, wie selbstverständlich die Nutzung dieser Technologie heute geworden ist – auch für ältere Besucher. Ganz am Anfang habe ich noch geglaubt, einem möglichen Nutzer erklären zu müssen, wie man so ein Gerät verwendet – das war schnell nicht mehr so. Das trägt dazu bei, dass es auch an Erinnerungsorten als selbstverständlicher wahrgenommen wird. Unabhängig vom digitalen verändert sich gerade auch das Verhältnis zwischen Besuchern und Mitarbeitern von Gedenkstätten. Was früher noch stärker hierarchisch war, löst sich auf und geht stärker in die Präsentation von verschiedenen Perspektiven, damit Besucher sich eine eigene Meinung bilden können. Das finde ich vollkommen richtig und wenn AR das bestärkt, bin ich absolut dafür, weiterzumachen.

Jedenfalls muss es nicht schlechter oder besser sein als frühere Annäherungen. Man muss sich als Kurator, genauso wie bei einer Ausstellung oder Publikation, darüber im Klaren sein, was man aus welchem Grund wie gestalten und publizieren möchte. Nur, wenn wir ausprobieren und mitmachen, haben wir die Chance, diese Entwicklung zu gestalten und den Rahmen, was angemessen ist, selbst mitzusetzen.

Frau Billib, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Auf der Webseite der Gedenkstätte gibt es zahlreiche weiterführende Informationen zum Thema.


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