Drei Jungfrauen und ein Krieg

Foto: © Annette Hauschild

Eine alte Legende, gespielt in drei Zeiten und vier Sprachen: Das Weimarer Theaterstück Malalai – die afghanische Jungfrau von Orléans ist ein dramaturgischer Turmbau zu Babel. Im Dialog mit Regisseur Robert Schuster und Dramaturgin Julie Paucker.

von Lara

Das Bühnenbild im E-Werk Weimar besteht aus Klang. Neben Hockern und ein paar kleineren Requisiten sind sieben große Tafeln aus Metall das Einzige auf der Bühne. Doch die durchdringende Wirkung der Geräusche, die die Schauspieler ihnen mit verschiedenen Geräten entlocken, ist eine der wenigen Konstanten im dreistündigen Stück der Theatergruppe KULA-Compagnie. Malalai – die afghanische Jungfrau von Orléans ist komplex: Schauspieler aus Deutschland, Frankreich, Afghanistan und Israel setzen sich in vier Sprachen – Deutsch, Französisch, Persisch und Hebräisch – und noch viel mehr Handlungsebenen mit unzähligen historischen und aktuellen Themen auseinander. Dabei ist es eigentlich ein klassisches Stück: eine kommentierte Adaption von Schillers Die Jungfrau von Orléans um die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc. Nur, dass die Kommentare Überhand nehmen. Manchmal scheint es im Kern um die Schauspieler zu gehen, die Die Jungfrau von Orléans aufführen; manchmal lassen die dargestellten Assoziationen zu den Themen aus Schillers Stück einen kohärenten Handlungsfaden nur noch schwer erkennen. Immer wieder jedoch kehrt die sprunghafte Handlung zurück zum Krieg in Afghanistan – und zu dem Bombenanschlag, der 2014 bei einer Theaterpremiere in Kabul zwei Menschen getötet und der afghanischen Schauspielgruppe AZDAR Theatre die Ausübung ihres Berufes im eigenen Land unmöglich gemacht hat. Heute sind sie in Weimar, und das internationale Ensemble, so wirkt es, spielt genauso sehr für das Publikum wie für sich selbst. Es verarbeitet mit seinem Stück auch die Geschichte des Stückes selbst, das ursprünglich ganz anders geplant war, wie Regisseur Robert Schuster und Dramaturgin Julie Paucker erklären:

Robert Schuster: Die Idee entstand eigentlich als unmittelbare Reaktion auf den Anschlag auf Charlie Hebdo, nachdem wir uns gefragt haben: Sind wir in Europa eigentlich kulturell noch gemeinschaftlich aufgestellt? Die Probleme werden größer, doch die Antworten werden wieder latent nationalstaatlich. Dem wollten wir ein Zeichen der Verständigung entgegensetzen: mit einem Projekt, in dem sich Künstler aus Frankreich und Deutschland sowie aus einem nichteuropäischen Land im Spiel begegnen würden. Das war die Ursprungsidee für die Produktion KULA – nach Europa. Kula ist ein Tauschprinzip in Papua Neuguinea, bei dem man von Insel zu Insel fährt und sich Geschenke macht. Die haben eigentlich keinen Wert, aber so generiert man Gemeinschaft – und irgendwann kommen sie wieder bei einem selbst an. Das Projekt konnte aber in der geplanten Form nicht stattfinden, da die Kollegen aus Afghanistan nicht einreisen durften. Aber wir haben nicht aufgegeben.

Julie Paucker: Als im vergangenen Jahr definitiv feststand, dass die Mitglieder von AZDAR Theatre nicht nach Deutschland kommen werden, waren wir bereits mitten in den Proben. Damals haben wir als Ensemble beschlossen, dass wir an der Idee eines kulturellen Austauschs mit ihnen weiter festhalten wollen und alles daransetzen, dass wir diesen doch noch realisieren können – wenn es hätte sein müssen, auch in einem anderen Land. Dann sind wir auf die Geschichte von Malalai gestoßen, die auch die afghanische Jungfrau von Orleans genannt wird. Ein afghanischer Mythos, der viele Gemeinsamkeiten zur französischen Legende von Jeanne d’Arc aufweist, der wiederum Schiller eines seiner bekanntesten Dramen gewidmet hat. Nicht zuletzt haben wir uns aber auch für diesen trinationalen Stoff mit weiblichen Heldinnen entschieden, als Referenz an die Ehefrauen der Künstler von AZDAR, die nicht mit einreisen durften. Da gab es keinen Verhandlungsspielraum. Sie mussten in Afghanistan bleiben als Garantie, dass die Männer zurückkommen.

Foto: © Annette Hauschild

Frauenrollen gibt es einige in Malalai – Frauen als Darsteller nur wenige. Beinahe alle Rollen wurden mit Männern besetzt. Nur drei Schauspielerinnen wirken mit; alle von ihnen verkörpern verschiedene Facetten der Jungfrau selbst. Die drei Jeannes halten eine Geschichte zusammen, die zwischen unzähligen Handlungssträngen im 15., 19. und 21. Jahrhundert springt. Wenn Zeiten und Wirklichkeiten ineinander fließen, fällt es manchmal schwer, dem Stück zu folgen. Kaum blickt man von der obligatorischen Übertitellektüre herunter – nur ein sehr geringer Teil des Stückes ist auf Deutsch –, hat sich die Bühne in etwas vollständig anderes verwandelt, mit neuer Geschichte, Zeit, Schauspielweise. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie viel mehr man mitnehmen könnte, wenn man alle vier Sprachen verstünde. Malalai ist ein dramaturgischer Turmbau zu Babel – im Umgang mit dem Publikum während der Aufführung, aber auch in seiner Entstehung.

Schuster: Die Proben waren von viel Übersetzungsarbeit begleitet, die bis zur viersprachigen Textfassung reichte. Wir hatten eine Dolmetscherin für Persisch. Mit unserer israelischen Spielerin, die im Stück hebräisch spricht, haben wir uns auf Englisch verständigt…

Paucker: … und den Franzosen die Regieanweisungen und Absprachen ins Französische übersetzt. Das war komplex in der Arbeit, weil alles viel langsamer geht, da es einfach seine Zeit braucht, bis dann jeder verstanden hat, was gerade gesagt wurde. Darauf mussten wir uns alle auch erst einmal einstellen.

Schuster: Das Ganze hat auch ein bisschen was von Stiller Post. Denn in der Übersetzungskette kann es natürlich auch vorkommen, dass man etwas falsch beziehungsweise anders versteht, als es gemeint ist und dann vielleicht das Gegenteil von dem macht, was man von ihm wollte.

Paucker: Auch in den Dialogen und im Spiel miteinander ergibt sich durch die Mehrsprachigkeit für die Schauspieler ein anderes Erarbeiten des Stücks. Um zu wissen, was gerade gesagt wurde und die Stichworte auch in der anderen Sprache herauszuhören, haben sie die Texte der anderen mitgelernt.

Selbst wenn einer Französisch, die andere Hebräisch spricht, kommunizieren die Schauspieler so natürlich miteinander, als spielte Sprache zur Kommunikation keine Rolle. Das ist besonders eindrucksvoll in den Szenen, die Schillers Vorlage verlassen. Immer wieder scheint jemand aus der Rolle zu fallen, beginnt über das, was er spielt, und dessen persönliche Bedeutung für ihn zu reflektieren. Malalai funktioniert nicht ohne genau dieses Ensemble. Jede Rolle ist im Dialog mit dem jeweiligen Schauspieler maßgeschneidert; zum Kennenlernen hat sich die Gruppe eine Woche lang auf dem Land zurückgezogen. In langen Gesprächen über die Bedeutung, die Begriffe wie Religion oder Nation für Menschen mit so unterschiedlichem Hintergrund haben, entstand ein Stück, in dem die Schauspieler ebenso präsent sind wie die Rollen. Die Arbeit war nicht immer ganz einfach. Denn Sprache ist das Eine, kulturelles Verstehen das andere.

Schuster: Die Herausforderung war, so viel Vertrauen untereinander zu schaffen, dass man sich auch nach und nach nicht mehr vor Konflikten scheut. Alle Beteiligten sind interkulturell offen, wollen sich verstehen und nicht verletzen. Doch das führt dazu, dass man über manche Dinge nicht spricht, oder nur mit allzu großer Vorsicht, was ja an sich sehr schön ist. Doch manchmal muss auch die Differenz spürbar werden, so dass man sagt: bis hier hin und nicht weiter.

Paucker: Und für die afghanischen Schauspieler war es nicht zuletzt auch eine emotionale Herausforderung, noch dazu in einem fremden Land. Seit dem Bombenanschlag vor drei Jahren haben sie nicht mehr gespielt. Die Premiere hier war ihre erste Vorstellung nach dieser Explosion.

Gleichzeitig ist es ihnen wichtig, wieder zu spielen, bedeutet es doch auch einen Triumph über die Angst. Einmal bedanken sie sich beim Publikum, dass es hier ist, ohne sich zu fürchten. Es ist kein einfacher Schritt, und die Erinnerung an den Anschlag und den Attentäter ist durch das gesamte Stück präsent. An einer Stelle, als die Vergangenheit so mächtig geworden ist, dass ein Weiterspielen unmöglich ist, tritt einer der Afghanen vor. „Ich kann ihm vergeben, indem ich ihn spiele“, sagt er. Es ist einer der stärksten Momente des Stückes, weil es nicht mehr um das Publikum geht. Für einen Augenblick wird Theater von einer die Wirklichkeit thematisierenden Fiktion zur realen Situation, und den Zuschauer erfasst das Gefühl, Zeuge authentischer persönlicher Gefühle zu werden. Diese wirklich eindrucksvollen Szenen liegen jedoch zumeist weit vom Originalstück Schillers entfernt – nicht komplett verwunderlich, bedenkt man, dass Die Jungfrau von Orléans über zweihundert Jahre alt ist. Wie weit ist Schiller heute überhaupt noch aktuell?

Schuster: Der junge Kerl hat 1800 dieses Stück geschrieben, weil er sich, noch vor den ganzen Befreiungskriegen, ein größeres, humanistisches Deutschland erträumt hat, eine Nation jenseits der Kleinstaaterei und der kriegerischen Auseinandersetzungen. Da hatte Nation eine übergeordnete, vereinende Bedeutung, und in so einer Situation befinden wir uns gegenwärtig auch. Natürlich ist dieser Begriff nach dem Faschismus und den letzten 250 Jahren nicht unbedingt positiv besetzt. Aber auch heute besteht die Sehnsucht nach dem Einenden, das vielleicht eine europäische Nation stiften kann. Aber wie kommen wir aus dieser kleingeistigen Kampfposition heraus, die Nation nur nationalistisch denken kann und sagt „Deutschland versus Frankreich“?

Dass Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden sollen, ist offensichtlich. An Schillers Stück anknüpfend wird gefühlt jedes passende aktuelle Thema angerissen, von Frauenrechten über soziale Ungleichheit bis zum Holocaust. In einer Szene wirft Jeannes Vater ihr vor, sich durch den gesellschaftlichen Aufstieg und das Studentenleben ihrer einfachen Herkunft entfremdet zu haben, in einer anderen bitten Jeanne und die pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai in einer Art flüchtlingspolitischer Krippenspiel-Herbergssuche gemeinsam um Asyl. Die meisten Themenfäden werden jedoch nur assoziativ ins Spiel gebracht und ebenso schnell fallen gelassen, selten wird etwas vertieft. Antworten oder gar eine übergeordnete Aussage gibt es nie.

Schuster: Ich sehe die Rolle des Theaters in einem ganz zentral politischen Bereich. Das Schönste, was das Theater kann, ist aus den unterschiedlichen Zuschauern ein Publikum zu machen, dem in diesem Moment nicht eine Antwort propagandistisch weitergereicht wird, aber das sich als Gemeinschaft derer begreifen lernt, die eine gemeinsame Fragestellung haben. Und wenn das an so einem Abend funktioniert – wenn afghanische Zuschauer und deutsche Zuschauer im Stück sitzen und man plötzlich im gleichen Moment still ist, weil man denkt „Wow, das ist unser gemeinsames Thema“ – dann ist das die ehrenvollste Aufgabe, die Theater übernehmen kann. Sicherlich sind wir nicht diejenigen, die sagen können, wie es weitergeht. Aber wir können eine gemeinsame Sensibilität dafür schaffen, was wir vielleicht miteinander diskutieren sollten.

Es ist eine durchaus ambitionierte Absicht: Malalai will durch all die angeschnittenen Fragen, Sprachen und Kulturen verbinden, einen Blick für das große Ganze schaffen. Und in seinen stärksten Momenten gelingt ihm das auch. An dem Punkt, wo Theater und Realität verschwimmen, erahnt man in den verschiedenen Inhaltsfäden einen kohärenten Strang – und der Zuschauer vergisst den Unterschied zwischen Deutsch und Persisch.

Weitere Vorstellungen im DNT Weimar am 21.10., 15.11. und 16.12.2017.
Karten und weitere Infos unter www.nationaltheater-weimar.de


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