Die Ideologie der Sommerromane

Von Call me by your name bis Camus: Sie versprechen den Sommer unseres Lebens. Eine Hass- und Liebeserklärung an „den besten Sommer des Lebens” in der Literaturgeschichte.

von Eva

Sie heißen: „Der große Sommer“. „Becks letzter Sommer“. „Das Buch eines Sommers“. Auf den Covern sieht man Frauen am Strand. Rückenperspektive. Junge Teenager, die ins Pool springen a la Call me by your name. In bunten Badehosen den Sprung ins Leben wagen. Man könnte ein ganzes Genre nach dieser Art von Romanen benennen: Sommerromane. Alle verbunden durch das nahezu platte Credo: Das wird der Sommer unseres Lebens, dieser Sommer wird alles verändern. Die Bibliotheken des 20. Und 21. Jahrhunderts sind voll mit solchen Sommerromanen. Irgendwo zwischen Coming-of-Age, Sinnkrise und existentialistischer Lebenserklärung. Eine Literatur der Superlative und Extreme. Im Sommer wird alles entschieden: Es wird der beste, emotionalste, lebensverändernste Sommer „ever“: Die Liebe des Lebens wird gefunden, Familienangehörige sterben, Freundschaften beginnen und zerbrechen, die erste Trennung passiert: Der Sommer scheint ein Wechselbad der Gefühle zu sein, der Schritt vom leichten Jungsein zum ernsten Erwachsenenleben, ein Überraschungspaket aller existentiellen Lebenslagen des Menschen. „Diesen Sommer. Ja, diesen Sommer werde ich bis an mein Lebensende in mir tragen, das weiß ich,“ sagte schon Birk zu Ronja Räubertochter.

Das Bild des perfekten Sommers hat so stark in unsere Alltagssprache und Popkultur Einzug gefunden, das man beinahe nicht mehr von einer Metapher, sondern eher von einem Lebensgefühl sprechen kann. Es ist so simpel wie existentiell. Der Sommer steht für die Dialektik unseres menschlichen Seins. Eine Dialektik, die auch das Sommergefühl umfasst: Zwischen warmen Sonnenstrahlen auf der Haut und lähmender Hitze und verbrannten Körpern. Sommer steht für Freiheit, Aufbruch, das Unbekannte, das Abenteuer, aber immer unter der Prämisse der Vergänglichkeit und der Möglichkeit, sich selbst verloren zu gehen. Ein jeder Sommer geht zu Ende, sagt schon ein altes Sprichwort. „And we could be together, baby, / As long as skies are blue“ singt Calvin Harris in „When I met you in the summer“. Der Sommer wird zur Projektionsfläche. Ein auch aus psychologischer Perspektive interessantes Motiv: An den Sommer wie an das Leben werden überdimensional hohe Erwartungen herangetragen. Das Narrativ von ´dem einen Lebenstraum´, dem einen Weg zum erfüllenden Leben macht sich hier bemerkbar. Ganz getreu dem Motto: Alles oder nichts.

Der Plot von Sommerromanen funktioniert nach dem simplen Prinzip des Dramas: Steigende Handlung, die Sommerferien beginnen. Pooltage, lange Nächte, Sonnenuntergänge. Alles könnte nicht schöner sein. Und dann plötzliche Katastrophe: Der Lebenstraum platzt. Das Leben ist nicht sonnig, sondern kalt, ernst und bitter. Es schlägt zu, wenn man es sich gerade im Liegestuhl gemütlich gemacht hat und die Füße ganz tief im weichen Sand vergraben hat. Ist es wirklich so einfach? Nein, sagen die Sommerromane und werden plötzlich ganz tiefgründig, wenn sie uns mit der hippsten Erfindung der modernen Literatur konfrontieren: Dem offenen Ende, welches bei den Sommerromanen eigentlich eine durch Melancholie getarnte Katastrophe ist.

Zum Glück gibt es in der Literatur auch andere Beispiele. Texte, die mit dem klassischen Sommermotiv brechen mit diesem spielen: So beispielsweise Judith Hermann in ihrem  Erzählungsband „Sommerhaus später“. Erzählt wird von Lebensvorstellungen, scheiternden Lebensläufe und Selbstinszenierungen. Das Sommerhaus wird in der gleichnamigen Erzählung zum Projektionsgegenstand der Zukunftsträume, des geregelten Lebenslaufes. Der Protagonist hat ein Sommerhaus gekauft und besichtigt dies gemeinsam mit der Ich-Erzählerin, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann. Das Sommerhaus ist in einem völlig desolaten Zustand. „Das Haus war schön. Es war das Haus. Und es war eine Ruine“, erkennt die Ich-Erzählerin. Der Sommer des Lebens, bei Judith Hermann unerreichbar.

Ob leichter Sommerroman oder komplexe Erzählung: Zeit scheint eng mit dem Motiv des Sommers verknüpft zu sein. Sprechen wir über unsere Lebenszeit, benutzen wir Bilder wie „jemand sei im Sommer seines Lebens“. Viele Romane, in denen der Sommer als Hauptmotiv dient, werfen einen ziemlich linearen Blick auf das Leben. Es gibt ein Davor und ein Danach. Und Hauptcharaktere, die den Sommer erleben, sind danach nicht mehr dieselben wie davor. So beispielsweise in dem Jugendroman „Call me by your name“ in dem der Hauptcharakter Eliot sich zum ersten Mal richtig und in einen Mann verliebt. Am Ende des Sommers haben sich er und sein Leben verändert. Die Frage ist, ob dieser lineare Blick auf Geschichten, wirklich ein vereinfachender oder ein realistischer ist. Der Mensch ist in jener Linearität der Zeitlichkeit gefangen. „Die Seele kommt alt zur Welt und wird jung. Das ist die Komödie des Lebens. Der Leib kommt jung zur Welt und wird alt. Das ist die Tragödie des Lebens,“ schreibt Oscar Wilde in „Eine Frau ohne Bedeutung“. Man könnte das Konzept von Sommerromanen nicht prägnanter zusammenfassen. Wir können uns nicht vorstellen, dass es keine Zeit gibt, das wusste schon Kant. Zeit (und Raum) sind Form der Erkenntnisweise des Menschen. Egal, wie viele Zeitsprünge, -straffungen oder -ausdehnungen in einer Erzählung eingebaut sind, um den Inhalt zu rekonstruieren, orientiert man sich in der Literaturwissenschaft an der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse, obwohl diese anders erzählt werden. Literatur lebt gerade von dieser Spannung zwischen Chronologie der Geschichte und Struktur Erzählung.

Die Sonne brennt auf der Haut, die Zeit verstreicht. Beiden können wir lebend nicht entkommen. Eine neue Perspektive auf diese Dialektik des Sommers eröffnet ein etwas anderer Sommerroman: „Der Fremde“ von Camus. Der Hauptcharakter des existentialistischen Romans wird an einem belanglosen Sommertag am Strand zufällig zum Mörder. Vor Gericht sagt er, die Sonne habe ihn so gequält, deshalb habe er den Mord begangen. Die Hitze nimmt in dem Roman generell eine zentrale Rolle ein: Während die Beerdigung seiner Mutter, der Mord, die Beziehung zu einer Frau für den Hauptcharakter kaum einen Gedanken wert sind, beschreibt er intensiv die Beziehung zum Wetter: die heiße Temperatur bei der Beerdigung, die stechende Sonne am Strand. Anders als in anderen „Sommerromanen“ scheint der Hauptcharakter hier völlig gleichgültig gegenüber dem Verlauf der Zeit, seinen Handlungen und deren Konsequenzen. Die Handlungen in „der Fremde“ haben nämlich keinen Grund und kein wirkliches Ziel. Begriffe wie Lebensentwurf, Pläne werden hier auf ganz neue Weise angefragt, und auch der Freiheitsbegriff des abenteuerlichen Teeniesommers wird hier aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet. Der Sand, die Sonne, das Meer das alles sind für den Hauptcharakter höchstens Störfaktoren, keine Projektionsflächen. Die Sonne ist da. Der Protagonist auch. Kausalitäten gibt es keine. Vielleicht weil der Protagonist kein unbeschriebener Teenieboy ist, sondern ein introvertierter, antriebsloser Mann.

Also Sommerromane als dialektische Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit oder platte Strandlektüre? Auf welcher Weise auch immer, die Sommerhitze scheint uns – zumindest auf dem Papier – nicht den Kopf zu zerglühen, sondern auf existentielle Fragen zurückzuwerfen. Ob beim Lesen und Schwitzen auf der Poolliege, beim Sommerhits im Supermarktradio hören oder bei der alljährlichen Ferienplanung : Vielleicht sagen uns Sommerromane das: Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was wir meinen, wenn wir „der Sommer unseres Lebens“ sagen, über seine Möglichkeiten und seine Beschränktheiten. Camus sagt dazu: „Im tiefsten Winter fand ich heraus, dass ich tief in mir, einen unsterblichen Sommer mit mir trug.“ Kitschig, banal und tiefgründig: Wie der Sommer in der Literatur.


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