Der weit-weg Virus Warum es uns immer wieder ins Ausland zieht

von Katharina Buri

Eines der schlimmsten Dinge, die eine potenzielle Schwiegermutter mal zu mir sagte, war: „Erzähl doch mal dem Jonas, wie toll es ist, ins Ausland zu gehen!“. Wir saßen beim Abendessen: Der Knabe, der zu jener Zeit in meinem Herzen regierte, seine Eltern, sein jüngerer Bruder Jonas und ich. Jonas war der absurden Idee verfallen, seine Schullaufbahn ohne das obligatorische Austauschjahr in den USA oder Kanada beenden zu wollen. Nun sollte ich, zu jener Zeit bereits einigermaßen auslandserfahren, ihm den Kopf gerade rücken. Ich zögerte eine Weile, denn ich wusste, dass der Haussegen von meiner Antwort abhing. Dann sagte ich das, was ich dachte: „Wenn man nicht wirklich aus innerster Überzeugung heraus ins Ausland gehen möchte, sollte man es auch nicht tun.“

Ich habe einige Bekannte erlebt, die nach reiflichem Überlegen zu dem Entschluss kamen, sie müssten die Sparte „Auslandserfahrungen“ in ihrem Lebenslauf aufpolieren. Teilweise auf Wunsch der Eltern hin, teilweise auch nicht. Fast alle kamen früher als geplant und enttäuscht wieder zurück.

Wer nicht tief im Inneren weiß, dass er gehen muss, weil er einfach gar nicht anders kann, der wird irgendwo zwischen Visumsantrag und Wohnungsauflösung kapitulieren. Wer das nicht tut, ist längst infiziert mit dem Virus, den man ein Leben lang in sich trägt. Auch in meinem Freundeskreis sind einige vom „Weit-weg-Virus“ befallen. Bei den meisten begann es ganz harmlos mit einer Woche Schüleraustausch in Frankreich oder England. Es folgten Auslands-Zivi oder Auslands-FSJ, work-and-travel-Aufenthalt, Auslandspraktikum und ERASMUS-Semester. Es scheint, als hätten diese Menschen die Lust am Sesshaftsein verloren. Sie sind Mitglieder der „Generation Hochmobil“, aber sie sind es nicht etwa, weil der Job sie dazu zwingt, sondern weil sie einmal Blut geleckt haben und jetzt gar nicht mehr anders können, als in regelmäßigen Abständen die Koffer zu packen und ihren Freunden Lebewohl zu sagen.

Auch mir geht es so. Ich kann nicht mehr länger als zwei Jahre am Stück in Deutschland sein. Irgendwann fängt es an, in meinen Fingerspitzen zu kribbeln – vorrangig an tristen Novembersonntagen. Ich klicke mich dann durch diverse Webseiten, lese Prospekte, sehe mir TV-Dokumentationen an. Anfangs ist alles nur eine Idee, geboren aus akutem Fernweh. Praktikum in Island im Sommer? ERASMUS-Semester in Portugal? Es ist ein bisschen, wie verliebt zu sein. Verliebt in eine Idee, einen Ort. Akribisch sammle ich Informationen über meine neue Liebschaft, lerne die Landessprache und tummle mich in einschlägigen Webforen. Längst habe ich gegen mein Hirngespinst verloren, ich weiß es nur noch nicht.

Viel Papierkram später, in der neuen Heimat auf Zeit angekommen, falle ich erstmal aus allen Wolken. Die ersten Tage und Wochen im neuen Land sind herb. Ich kenne niemanden und alles ist noch so fremd. Mein Leben gleicht den unausgepackten Koffern im neuen Zimmer. Alles ist anstrengend und aufregend. Irgendwann fange ich dann aber an, mich einzurichten: die Bücher ins Regal, die Telefonnummern neuer Menschen ins Handy, die Straßennamen ins Gedächtnis. Ich stelle erleichtert und zugleich entsetzt fest, dass ich angekommen bin. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle auch schon wieder abfahren. Koffer packen und auf ein Neues! Denn was einen wirklich ansteckt, sind die Anfänge. Das Chaos, die Unaufgeräumtheit der ersten Zeit. Vom Leben überrumpelt zu werden und sich wieder freizustrampeln. Wie sang Frank Sinatra so passend:  „If I can do it here, I’ll do it everywhere…“ Vielleicht ist es genau die Erkenntnis, es überall irgendwie schaffen zu können, die ein erhöhtes Infektionsrisiko birgt.

Der Alltag findet einen überall, selbst an den paradiesischsten Orten, und überzieht alles mit einer grauen Schicht Eintönigkeit. Spätestens nach einem halben Jahr ist es soweit. Ungefähr zu dieser Zeit fange ich auch an, mich wieder nach Deutschland zu sehnen. Zuerst nur nach Kleinigkeiten: naturtrübem Apfelsaft. Nieselregen. Meinem Heimatdialekt. Später vermisse ich auch meine Freunde und meine Familie.
Die Rückkehr ist schön und ich freue mich, wieder zuhause zu sein. Einige Monate bin ich völlig symptomfrei und vergesse meine Infektion. Bis, eines Tages, meine Finger erneut zu kribbeln beginnen…

Lust bekommen auch mal in die Weite zu schweifen? Wie wäre es zum Beispiel mit einem Auslandssemester in Kanada? Unsere Autorin berichtet detailliert über ihre Erfahrungen.


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