Der vergessene Konflikt: Zwischen den Fronten

von Marlene Schultz

In mindestens sieben der 28  indischen Unionsstaaten sind derzeit maoistische Untergrundkämpfer aktiv. Besonders im östlichen Bundesstaat Chhattisgarh führen ihre seit Juni 2005 anhaltenden Kämpfe mit den Sicherheitskräften der Regierung zu einem massiven Anstieg von Menschenverletzungen. Besonders für die Adivasi, die Ureinwohner der Region, sind die Folgen verheerend.

Chhattisgarh ist einer der ärmsten Bundesstaaten Indiens, er liegt im Herzen des indischen Stammeslandes. Am 1. November 2000 wurde er durch das indische Bundesparlament vom Unions­staat Madhya Pradesh abgespalten. Damit kam man endlich den Unabhängigkeitsforderungen der Adivasi-Stämme nach, wurden zwischen 1950 und 1990 doch mehr als 8,5 Millionen Adivasi durch Staudämme, Bergwerke und Industrieanlagen sowie die Einrichtung von Nationalparks aus ihrer Heimat vertrieben.

Kampf der Kommunisten in Ostindien
Seit einiger Zeit jedoch befindet sich der südliche Teil Chhattisgarhs unter der Kontrolle maoistischer Rebellen, die seit Gründung der Communist Party of India (CPI) im Jahre 1925 aktiv sind. Besonders Ende der 1960er-Jahre erlebte der revolutionäre Kampf in Westbengalen eine Neuauflage. Das Dorf Naxalbari, nahe der Grenze zu Nepal, und der dortige Aufstand von Plantagenarbeitern im Jahre 1967 prägten den Namen „Naxaliten“ für einen militanteren Teil, der sich von der CPI abspaltete. Bis Mitte der 1970er-Jahre setzte dieser den Kampf als Stadtguerilla in Westbengalen fort. Infolgedessen wurden viele Naxaliten und ihre vermeintlichen Sympathisanten gefoltert, auch von illegalen Hinrichtungen wird berichtet. Die derzeitigen Hochburgen der Naxaliten sind das nordindische Bihar, das Hochland von Jharkhand und Wälder des Deccan-Plateaus in Chhattisgarh und Andhra Pradesh.
Der Süden Chhattisgarhs befindet sich derzeit nicht mehr unter Kontrolle des indischen Staats, die Dörfer dort gehören zur befreiten Zone der Naxaliten. Es herrscht offener Bürgerkriegszustand, Schnellfeuergewehre werden ebenso eingesetzt wie Landminen. Wer nicht kooperiert, wird zusammengeschlagen oder erschossen.

„Friedensmission“ verschärft die Situation
Die Maßnahmen des indischen Innenministeriums gegen den Naxalismus sahen seit 2005 sowohl die Stärkung der Geheimdienste auf Ebene der Unions­staaten, anhaltende bewaffnete Aktionen der Sicherheitskräfte sowie eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Regionen vor. Tatsächlich liegt der Fokus viel stärker auf militärischer Gewalt als auf friedlicher Entwicklung. Der Regionalpolitiker Mahendra Karma von der Kongresspartei rief 2005 die sogenannte Salwa-Judum-Kampagne („Friedensmission“ im lokalen Gondi-Dialekt) ins Leben, durch die sich die Situation dramatisch verschärfte.
Sie bedeutet eine Entlastung der indischen Sicherheitskräfte und schafft durch die Bewaffnung von Zivilisten ein militärisches Gegengewicht zu den Naxaliten. Doch ist es dadurch fast unmöglich geworden, zwischen Kämpfern und Unbeteiligten zu unterscheiden. Zwischen die Fronten geraten insbesondere Kastenlose und Adivasi. Ganze Dorfbevölkerungen wurden gezielt in Lager, sogenannte Ausbildungscamps, umgesiedelt, wo sie neben ideologischer Schulung auch eine militärische Grundausbildung erhalten. Vor allem Adivasi werden für die Salwa-Judum-„Selbstschutzgruppen“ rekrutiert. Auch Minderjährige werden als Special Police Officers (SPO) rekrutiert und erhalten einen monatlichen Sold von 1.500 Rupien (umgerechnet etwa 25 Euro).
Es gibt Berichte, dass Dörfer, die sich der Räumung widersetzt haben, von Salwa-Judum-Einheiten und Sicherheitskräften angegriffen wurden. Denn im Krieg gegen die Naxaliten machen die­se kaum einen Unterschied zwischen maoistischen Kämpfern und Zivilisten. Wer in einem von den Rebellen kon­trollierten Dorf wohnt, wird als Naxalit betrachtet.

Andersherum sind die Salwa-Judum-Lager aber auch immer wieder Ziel mao­istischer Angriffe. Im Juli 2006 brannten Naxaliten z.B. ein Camp in Errobore (Distrikt Dantewada) nieder, wobei 31 Bewohner getötet und 41 entführt wurden. Die katastrophale und komplexe Menschenrechtssituation lässt sich kaum schnell beenden. Ein Beginn wäre eine wirtschaftliche und soziale Förderung derjenigen Gebiete, in denen der Kampf am heftigsten tobt.

Die Unterstützung der Stämme entziehen
Der ehemalige Ministerpräsident Indiens, Atal Bihari Vajpayee, meint, der Konflikt könne nicht mit militärischen Mitteln gelöst, die Naxaliten in absehbarer Zeit nicht besiegt werden. Der einzige Weg, sie zu schwächen, sei Entwicklung – dadurch entziehe man den Aufständischen die Unterstützung der Stämme. Der Staat müsse sich endlich Gedanken machen, wie er das Leben der Adivasi verbessern könne.

[Marlene Schultz (20) studiert Psychologie an der FSU Jena und ist Mitglied der Amnesty International-Hochschulgruppe. Denen eine Stimme zu verleihen, die mundtot gemacht wurden, ist für sie ein guter Weg, politisches und soziales Engagement zu zeigen.]

Bildquelle: Asian Center for Human Rights


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