Der Kanon ist eine Lüge

Die Lektüreliste der germanistischen Literaturwissenschaft der FSU Jena, zu der die Studierenden eine mündliche Prüfung ablegen müssen, zählt bei 120 Titeln 13 von Autorinnen. Nur ein Autor des Globalen Südens ist vertreten. Noch immer vermittelt Universität ein längst altmodisch gewordenes Bild von Literatur, das direkt in die Schulen getragen wird. Kanonisierung ist Prestige und Erinnerung. Welche Perspektiven sind forschungsrelevant und welche nicht?

von Elsa

Bücher erzählen uns, wie die Welt ist. Jedenfalls habe ich das mal geglaubt. In Büchern stecken Wahrheiten über das Leben. Wie ist es zu leben? Was fühlen wir? Wie sind wir? Was treibt uns an? Welche Lügen erzählen wir uns? Können uns Bücher auch belügen?

Ich glaube, Bücher können das. Vielleicht nicht ein einziges Buch. Vielleicht nicht dein Lieblingsbuch. Aber wenn zwei Bücher zusammenkommen und noch ein drittes dazu und noch ein paar mehr kann ich mir vorstellen, dass sie sich gegenseitig von sich erzählen. Sie erzählen sich, was in ihnen ist und worüber sie nachdenken. Jedes Buch spricht seine eigene Sprache, aber wenn man in einem kleinen Kreis zusammenkommt und anfängt zu tratschen und herumzualbern, passt man sich der Sprache der anderen an. Dann fallen vielleicht ein paar Sachen weg, die man eigentlich zu erzählen hat. Man möchte auf die anderen eingehen, empathisch sein, höflich. Also redet man eben über das, was man kennt und bei dem die anderen sich gesehen fühlen. Und wenn ich von außen dazukomme und denke „oh, die haben aber viel zu sagen“, höre ich erstmal ganz genau hin, was die so zu reden haben. Dann denke ich, dass das alles sehr wichtig klingt und glaube, „ah, so muss ich also denken. Das ist richtig, das ist wahr.“ Also komme ich dazu, lächle sie freundlich an und sage ihnen auch, was ich denke, also was sie denken. Und so wird der kleine Kreis noch um ein Buch erweitert.

Diese Bücher sind über die Zeit ganz schön berühmt geworden. Sie sind dicke Wälzer, mit Ledereinband, sind vielleicht Teil einer Gesamtausgabe. Sie sind Mentoren geworden, weise, erfahren. Sie sind jetzt die, die von außen auf die jungen Novellen gucken, welche bewundernd zu ihnen aufblicken. Ich stelle mir vor, wie ein Finger über die Bucheinbände streicht, auf der Suche nach der Lektüre für den Abend. Die jungen lebenshungrigen Bücher freuen sich, sie erwachen erst, wenn sie aufgeschlagen werden, wenn sich jemand ihrer Geschichte annimmt, sich in die ‚Wahrheit‘, die sie zu erzählen haben, vertieft.

Aber sie haben auch Angst, sie haben Angst vor dem Verfall. Niemals in die Hand genommen, niemals gelesen zu werden, in seine Einzelteile zu zerfallen, zu verrotten, bedeutungslos zu werden. Sie tun alles dafür, damit das nicht geschieht. Denn sie müssen, müssen, müssen gelesen werden, um zu sein. Die Angst macht sie hilflos, sie suchen nach denjenigen, die sie ihnen nehmen können. Sie schauen zurück, vor allem zurück. Zu denen, die vor ihnen da waren, die es geschafft haben, den Meistern, den Großen, den Unantastbaren. Sie kopieren sie ihre großen Vorbilder, träumen vom Goldschnitt. „Oh, du siehst ja aus wie ein richtiger Goethe“, sagt da der eine zum anderen. „Und du, du bist ein richtiger Mann“.

Ich frage mich, was aus den anderen Büchern geworden ist. Den Verfallenen. Welche Welten haben sich mit ihnen in Luft aufgelöst? Die Frage lässt mich nicht schlafen. Ich frage mich, was ich verpasst habe, welche Sichtweise, welche Nuance ist mir verwehrt geblieben, durch die Finger gerutscht, bevor ich überhaupt geboren wurde? Ist das letzte Exemplar meines Lieblingsbuches in einer Ecke vergammelt, bevor ich es jemals lesen durfte? Die Welten, die ich kenne, sind so wenige. Haben sie sich schlecht verkauft, wurden sie nicht neu aufgelegt, erschienen sie nicht relevant? Oder waren sie schlecht geschrieben? Was für ein grausamer Tod. Der des Vergessens. Ausgelöscht zu werden aus der kollektiven Erinnerung. Ich stelle mir vor, dass einige von Welten erzählt haben, mit denen die Leser:innen nichts anfangen konnten, die sie nicht verstanden, ihnen sogar unangenehm waren. Vielleicht wurden sie nie in Zeitungen besprochen, von den Kritiken übergangen, von wichtigen Listen gestrichen. Welche Bücher wohl heute in Regalen und hintersten Winkeln verschimmeln? Das falsche Thema? Kamen sie ein Jahr zu spät, zwanzig Jahre zu früh?

Vielleicht kann ich offen bleiben. Vielleicht kann ich versuchen, eine Welt zu verstehen, die ich nicht sofort begreife, die mir Fragen offen lässt, deren Blickwinkel sich mir nicht sofort erschließt. Eine Welt, die sich nicht auf das Erzählte der Alten verlässt, auf das, was ich auch kenne. Die mir ein Detail verrät, eine Nuance, die etwas geraderückt, mich etwas begreifen lässt, mir etwas erzählen kann, was ein anderes Buch nicht kann. Die fundamentalen Wahrheiten stecken in den Nuancen. Das Dominante, das, was en masse existiert, drängt zur Seite, hinterlässt Lücken. Wer darf von seinem Leben erzählen? Welches Leben ist literaturfähig?

Ich werde auf die Suche gehen, in allen Bücherkisten stöbern. Ich muss dabei vorsichtig sein, muss aufpassen, mich in Acht nehmen vor den Gefährlichen, den Zerstörerischen, denen, die andere vernichten und belügen wollen. Sie sind zu recht verfallen und vergangen. Ich suche nach Geschichten, die mich an Orte reisen lassen, an denen ich noch nicht war, Gedanken spinnen, die ich noch nicht vorher gedacht habe. Nach Büchern, die mir von sich erzählen wollen. Ist ja auch der Sinn von Lesen.


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