Briefe aus Taiwan: Chen Li und die Grammatik der Unterdrückung

(Foto: Dima Konsewitch)
(Foto: Dima Konsewitch)

Ein kleiner Einblick in das Leben und Schaffen eines chinesischen Lyrikers.

von Kristina Bier

Poesie, das sei seine Art, mit der Welt zu kommunizieren: Für Chen Li, geboren 1954 und aufgewachsen an der Ostküste Taiwans, ist deshalb jedes seiner Gedichte ein „Brief an die Welt“. Als 1997 erstmals eine Auswahl seiner Werke in englischer Übersetzung erschien, trug diese dann auch den Titel „Intimate Letters: Selected Poems of Chen Li“.

Die Inspirationsquellen Chen Lis sind vielfältig: Seit er als Student in den 1970er Jahren das Schreiben begann, ließ er sich nicht nur von den chinesischen Klassikern und den Dichtern der Tang-Dynastie beeinflussen. Er setzte sich auch mit den Werken zahlreicher europäischer und lateinamerikanischer Dichter auseinander. In Zusammenarbeit mit seiner Frau Chang Fen-ling übersetzte er viele ausländische Autoren ins Chinesische. Auch seine eigenen Werke wurden vielfach übersetzt: Neben den englischen „Intimate Letters“ existieren unter anderem Übertragungen ins Japanische, Französische und Niederländische. Auf internationalen Festivals in Frankreich und den Niederlanden stellte er sie dem europäischen Publikum vor.

Bekannt ist Chen Li auch für die Kunstform des „visuellen Gedichts“, der er sich auch in einem seiner bekanntesten Werke, 戰爭交響曲 („A War Symphony“), bedient: Dabei werden Visuelles und Dichtung auf ästhetische Weise verbunden und machen sich den bildhaften Charakter chinesischer Schriftzeichen zunutze. Kurze Sätze oder Wörter ergeben erst durch ihre spezielle Anordnung eine Geschichte. Dies erinnert an die „konkrete Poesie“, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts in der europäischen Literatur Verbreitung fand.

Chen Lis Gedicht 独裁 („Diktatur“) könnte jede Tyrannei in der Geschichte meinen. Es erzählt von Despotismus, der Aussichtslosigkeit der Unterdrückten, vom Zwang zur Uniformität. Und doch machen das Entstehungsdatum – und Chen Lis Nationalität – dem Leser klar, dass es hier um die Besetzung des Tiananmen-Platzes 1989 geht. Im Frühjahr des Jahres hatten sich Studenten organisiert, um gegen Korruption und Unterdrückung zu demonstrieren. Mit ihren Protesten trafen sie den Nerv der Zeit. Bald schlossen sich ihnen Bürger aus allen Schichten an. Es folgten die Besetzung des Platzes in Beijing, Hungerstreiks und wochenlange Massendemonstrationen. Anfang Juni beschloss die Regierung, den Platz zu räumen. Dabei kam es zu massiven Zusammenstößen zwischen unbewaffneten Zivilisten und Soldaten der Volksbefreiungsarmee, die auch Panzer einsetzten. Je nach Schätzung starben bei diesem Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 zwischen 300 und 3.000 Menschen. In China ist dieses dunkle Kapitel der Geschichte bis heute ein Tabuthema. Chen Li thematisierte die bedrohliche Situation bereits im Mai 1989 auf seine Weise – in einem seiner vertraulichen Briefe an die Welt.

Weitere Gedichte von Chen Li, auch in englischer Übersetzung, findet ihr hier.

Kristina Bier (24) studierte Regionalstudien China mit dem Nebenfach Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln und schreibt gerade an ihrer Abschlussarbeit. Während ihres Studiums lebte sie ein Jahr in Chengdu in der Provinz Sichuan.

http://www.youtube.com/watch?v=vKJumF5Rdok

Kommentare

Eine Antwort zu „Briefe aus Taiwan: Chen Li und die Grammatik der Unterdrückung“

  1. Avatar von J
    J

    Sehr interessanter Artikel!

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