Die Weltkatastrophe

(Illustration: Anastasiia Slobodianiuk)

Vor drei Jahrzehnten explodierte das Atomkraftwerk Tschernobyl; der GAU wiederholte sich 25 Jahre später in Fukushima. Die Auswirkungen der Katastrophen auf das Selbstverständnis der menschlichen Zivilisation liegen noch im Dunkeln. Eine Erkundung.

von Martin

Auch zum doppelten Jahrestag der Atomunfälle in Tschernobyl und Fukushima ringt die Menschheit mit den Folgen der Ereignisse. Statt bewältigter Geschichte sind sie zu verstetigten Katastrophen geworden. In der späten Nacht des 26. April 1986 ereignete sich im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine die Katastrophe. Durch einen fahrlässigen Sicherheitstest kam es im Reaktorblock 4 zu einer gewaltigen Explosion. Obwohl es bereits in der Vergangenheit zu schweren Atomunfällen kam – wie z.B. in Kyschtym 1957 oder in Harrisburg 1979 – markiert Tschernobyl eine Zäsur. Ein Ereignis, von dem Experten glaubten, dass es statistisch nur alle 10.000 Jahre eintreten würde, entfaltete das ganze Ausmaß seiner Destruktivität. Diese bis dahin beispiellose Katastrophe markierte als maximaler Störfall – als größter anzunehmender Unfall – das obere Ende der Erwartungsskala: der GAU sprengte nicht nur den Reaktor, sondern auch alle Vorstellungen, die sich Menschen von der Gefährlichkeit und Beherrschbarkeit ihrer Technologie machten.
Die vermeintliche Einzigartigkeit der Katastrophe bestärkte dennoch die Ansicht, dass es sich um einen singulären Unfall handelte, der zwar eingetreten war, in Zukunft aber durch bessere Technologien unmöglich werden sollte. Bis 25 Jahre später am 11. März 2011 in Japan die Erde bebte. Der davon hervorgerufene Tsunami beschädigte das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi so schwer, dass die gesamte Reaktorkühlung versagte und es auch hier zur Katastrophe kam: In drei der vier Reaktoren setzte eine Kernschmelze ein, die die Reaktoren zerstörte und Unmengen an radioaktivem Material freisetzte. In Anbetracht des doppelten Jahrestages dieser Katastrophen, drängt sich eine Frage auf, die – so banal wie schwierig – noch immer auf eine Antwort wartet: Wieso gab es nach „Tschernobyl“ ein „Fukushima“ und was sagt das über das zivilisatorische Selbstbild des Menschen aus?

Der größte anzunehmende Unfall – gestern und heute
Um die ganze Bedeutung von Tschernobyl und Fukushima erahnen zu können, lohnt sich eine Gegenüberstellung dieser Katastrophen. Im Falle von Tschernobyl führte ein fatales Experiment mit der Notkühlung der Reaktoren zum Kontrollverlust – der Reaktor explodierte. In einer gewaltigen Eruption blies das Kernfeuer hochradioaktives Brennmaterial in den Nachthimmel. Die nukleare Wolke zog über weite Teile Europas hinweg, ihr Fall-Out kontaminierte riesige Gebiete. Bis zu 800.000 sogenannte Liquidatoren (meist Soldaten oder zwangsrekrutierte Arbeiter) waren in den folgenden Monaten unter haarsträubenden Bedingungen eingesetzt, um den nuklearen Glutofen zu löschen, das umliegende Areal zu dekontaminieren und den abschirmenden Sarkophag zu bauen. Die Strahlung war hier teilweise so stark, dass angrenzende Wälder binnen Tagen abstarben. Durch die Kontamination wurde alles zur Gefahr: ob Erde, Arbeitsgerät oder zurückgelassene Häuser, alles wurde in großer Eile in sogenannten Mogilniki – provisorischen Endlagern – verscharrt. Obwohl es durch diese Anstrengung gelang, die Situation zu entschärfen, bleibt die Reaktorruine auch heute gefährlich. Hinzu kommen die Langzeitfolgen der Strahlung für Körper und Psyche, deren Ausmaße auch 30 Jahre später noch immer unterschätzt werden. Wie viele Opfer die Katastrophe forderte (und fordert), bleibt – besonders im Falle Tschernobyls – ebenfalls Spekulation. Zumal seien bis heute, so der Soziologe Ulrich Beck, noch gar nicht alle Opfer von Tschernobyl geboren. Allein die als Ewigkeit anmutende Halbwertszeit radioaktiver Schadstoffe überfordert das menschliche Zeitempfinden vollständig.

Halbwertszeit:
Die Halbwertszeit (HWZ) ist die Zeit, die ein (radioaktives) Element benötigt, um zur Hälfte zu zerfallen. Bis es nicht mehr nachweisbar ist, rechnet man schätzungsweise mit einer zehn- bis dreizehnfachen HWZ. Bei einem Atomunfall häufig freigesetzte Elemente sind u.a. Jod-131 mit einer HWZ von einer Woche, Cäsium-137 mit einer HWZ von 30 Jahren und Plutonium-239 mit einer HWZ von 25.000 Jahren. Bis die radioaktive Kontamination eine ungefährliche Konzentration erreicht hat, werden voraussichtlich mindestens 300 Jahre vergehen.

In Fukushima bildet dagegen eine Reihe von Vorfällen einen anhaltenden Problemkomplex: Nachdem der Tsunami weite Teile der Reaktorkühlung zerstört hatte, kam es in drei der Reaktorblöcke und einem Abklingbecken in den folgenden Stunden, Tagen und Wochen zur Kernschmelze. Die Tatsache, dass die Betreiberfirma Tepco erst einen Monat später eine Kernschmelze zugab, ist bezeichnend. Die Explosionen verseuchten auch hier weite Teile des Umlandes. Eine 30 Kilometer große Sperrzone wurde um die Unfallherde eingerichtet und evakuiert, deren über 100.000 Bewohner bisher kaum zurückkehren konnten. Während sich in Tschernobyl das Löschen des nuklearen Kernfeuers zum Hauptproblem entwickelte, wurde in Japan die Kühlung der freigelegten Brennstäbe zur Herausforderung – für die es auch fünf Jahre später noch keine adäquate Lösung gibt. Fukushima war ein GAU in Zeitlupe. Anders als in der Ukraine, wo die Arbeiten nach mehreren Monaten für abgeschlossen erklärt wurden, sind in Fukushima auch fünf Jahre später täglich bis zu 7.000 Arbeiter damit beschäftigt, die Reaktoren notdürftig zu kühlen, das Gelände zu sichern und das umliegende Areal zu dekontaminieren. Dies ist jedoch eine Sisyphusarbeit geworden: Die geschmolzenen Brennstäbe werden immer noch mit Meerwasser gekühlt, das dabei – hochverstrahlt – selbst zur Gefahr wird. Bis heute haben sich über 750.000 Tonnen radioaktiv verseuchten Wassers auf dem Gelände angesammelt und die Gefährlichkeit der Anlage weiter potenziert. Obwohl das Abklingbecken inzwischen gesichert werden konnte, ist die Gefahrenlage in den zerstörten Reaktorblöcken auch heute völlig unklar und unkontrollierbar. In Fukushima hat sich damit der maximale Störfall verstetigt – eine Katastrophe in Permanenz. Der GAU als neuer Zustand, der immer neue furchtbare Geschichten hervorbringt – was auch für Tschernobyl gilt.

Verdrängen statt Erinnern
Die politischen Reaktionen auf die Unfälle waren in beiden Fällen so irritierend wie fragwürdig. Tschernobyl war 1986 ein Ausnahmeereignis, von dem man hoffte, dass es einzigartig bleiben würde. Und so überrascht nicht, dass die Ursachen schnell dem maroden Sozialismus, der steinzeitlichen Technik und Behäbigkeit der staatlichen Bürokratie angelastet wurden. Besonders das Schweigen der sowjetischen Führung – trotz Glasnost – bestätigte diese Auffassung und die Gefahr eines erneuten GAUs wurde schnell als Systemfrage abgetan.
Mit dem Unfall in Fukushima trat 2011 das Undenkbare aber zum zweiten Mal ein. Anders als 1986 war die Katastrophe von Beginn an ein globales Medienereignis, weshalb auch international ein schockiertes Innehalten folgte. Jetzt hatte auch ein Hochtechnologieland wie Japan, jetzt hatte auch der Kapitalismus seinen maximalen Störfall. Doch die politische Reaktion war jener von 1986 nicht unähnlich: Politiker und Ingenieure bemühten sich, Ausmaß und Folgen klein zu reden und diese in ihrer Tragweite zu verschleiern. Ein japanischer Staatssekretär trank in einer Pressekonferenz sogar vermeintlich radioaktiv kontaminiertes Wasser, um die Ungefährlichkeit von Radioaktivität zu beweisen, während Kanzlerin Merkel nach den Reaktorexplosionen erklärte: „An so einem Tag darf man sicher nicht sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher.“ – und schob schnell ein „Sie sind sicher!”.
Dieses Oxymoron vom unsicheren-sicheren Kernkraftwerk wirft ein Schlaglicht auf das verzweifelte Festhalten am Sicherheitsmythos der Atomkraft. Es verwundert daher nicht, dass auch nach Fukushima kein globaler Atomausstieg stattfand – sogar in Japan gehen die ersten Meiler wieder ans Netz. Der Sicherheitsmythos konnte aufrechterhalten werden, nicht nur, weil Fukushima mit seinen vielen Wassertanks als Industrieanlage begriffen wird, sondern auch, weil es keine Bilder von schmelzenden Reaktoren und verzweifelten Liquidatoren gibt. Die jüngsten Schreckensnachrichten aus den französischen und belgischen Uralt-Reaktoren Fessenheim und Doel werden daran nichts ändern. Auch nach der zweiten Katastrophe innerhalb von nur 25 Jahren wird die Gefahr der Atomkraft weitgehend verdrängt. Nur das „Restrisiko“ bleibt.

Ein Weltbild wurde gesprengt
Um die Verdrängungsleistung nach dem GAU zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Werke zweier Autoren: Ulrich Beck, dem großen soziologischen Diagnostiker der Risikogesellschaft, dessen Werk die Bedeutung von Tschernobyl nicht nur vorwegnahm, sondern auch präzise analysierte, und Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin und große Tschernobyl-Chronistin, die über 20 Jahre lang die individuellen Schicksale der Betroffenen aufzeichnete und damit ein erschütterndes Bild vom Leben nach dem Unfall zeigte. Für Beck markierte Tschernobyl eine historische und zivilisatorische Zäsur, die durch Fukushima auf so furchtbare wie unausweichliche Weise bestätigt wurde. Die menschliche Zivilisation und ihr technologischer Fortschritt sind sich selbst durch die Produktion immer neuer Risiken zur Gefahr geworden. Sie hat eine instrumentelle Rationalität hervorgebracht, die auf technische Risiken und Gefahren mit immer neuen Technologien reagiert, die ihrerseits noch größere Risiken hervorbringen. Tschernobyl offenbarte dies – es wurde zu einem, so Beck, „anthropologischen Schock“, der das Ende aller Distanzierungsmöglichkeiten markierte. Daher schreibt der Soziologe in seinem Vorwort zur Risikogesellschaft, das nur wenige Wochen nach Tschernobyl entstand: „Weiterleben und (An-)Erkennung der Gefahr widersprechen sich.“ Der GAU offenbart damit die Hilflosigkeit einer hochzivilisierten Welt, die nur durch Verdrängung ihr Selbstverständnis aufrechterhalten kann. Und dies gilt nicht nur für Fukushima, sondern auch für die großen und kleinen zivilisatorischen Katastrophen, mit denen der Mensch zu leben gelernt hat: die größte Ölpest der Geschichte nach dem Sinken der Bohrplattform Deepwater Horizon; der Verseuchung der Nahrungskette durch das karzinogene Pestizid Glyphosat oder den verheerenden, unkontrollierbaren Folgen des Klimawandels. Die Geschichte der Katastrophen sei somit erst angebrochen, wie Alexijewitsch bemerkt.
Mit dem 30. Jahrestag von Tschernobyl und dem 5. Jahrestag von Fukushima wird deutlich, dass sie welthistorische Ereignisse sind und beide damit zu einer einzigen Weltkatastrophe werden. Der Katastrophenzustand wird zur Normalität, das Leben mit dem GAU zum Alltag. Das ist eine Realität, die der Mensch noch nicht begreift, mit der er sich aber trotzdem bereits arrangiert hat.
Nichts verdeutlicht dies mehr als die desinteressierte Institutionalisierung des GAUs durch Tepco und die japanischen Behörden. Daher verwundert es nicht, dass es keine Erinnerungskultur, kein echtes Gedenken gibt. Stattdessen eine Kultur des Verdrängens, die letztlich der Aufrechterhaltung eines obsoleten zivilisatorischen Status-Quo dient, der mit dem GAU selbst explodierte. Tschernobyl und Fukushima haben die technologische Selbstsicherheit endgültig widerlegt. Sie markieren als Ereignisse ein zivilisatorisches Scheitern, für das es weder ein Bewusstsein noch eine Kultur der Aufarbeitung gibt. Und so hat die eigentliche Aufarbeitung ihrer Konsequenzen für die menschliche Zivilisation und ihr Verhältnis zur Natur noch gar nicht begonnen. Bis dahin bleiben die Reaktorruinen von Tschernobyl und Fukushima ein manifestes Spiegelbild unserer zerstörerischen Lebensweise. Sie werden zu Mahnmalen des menschlichen Unvermögens – die Weltkatastrophe ist noch lange nicht Geschichte.

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