Alle Jahre wieder …

von Robert Jabs

Immer wieder erschüttern Amokläufe an Schulen die Republik. Doch anstatt sich der Täter und ihrer Gedanken anzunehmen, werden Scheindebatten geführt, um von den wirklichen Problemen abzulenken.

Am 11. März diesen Jahres war es wieder so weit: Ein Schüler, ausgerüstet mit legalen Waffen, marschierte in eine Schule und begann, Mitschüler und Lehrer zu erschießen. Kein Einzelfall, denn seit dem Jahr 1996 zählte man weltweit 58 solcher Taten.  Mit den Medien kamen auch die sogenannten Experten auf die Bühne gekrochen. Ob im Namen einer Partei oder der vereinigten Lehrerschaft – jeder hatte auf einem Silbertablett die Lösung des Problems dabei.

Mit allen verfügbaren Fingern wurde auf Dinge gezeigt, die vorher hübsch zusammenorakelt wurden. Was die Täter aber wirklich unzensiert zu ihrer Tat zu sagen hatten, wurde fast vollständig ignoriert. Lieber wurden PC-Games, die modernen Räuber-und-Gendarm-Varianten der Kinder- und Jugendbeschäftigung, als „Killerspiele“ oder „Tötungstrainingssoftwares” gebrandmarkt und von ihrer angeblichen Schadenswirkung her auf eine Ebene mit der Kinderpornographie gestellt. Solche Spiele widersprächen dem „friedlichen Wertekonsens“ unserer Gesellschaft.

Auch die Waffengesetze sind ein beliebtes Thema, um sich nicht mit den Tätern selbst auseinandersetzen zu müssen. Nach dem Amoklauf in Erfurt wurde die Abgabe von großkalibrigen Waffen an Jugendliche unter 21 Jahren fast vollständig verhindert. Eine Scheinlösung, bedenkt man, dass auch Kleinkaliber ausreichen, um eine solche Tat zu verüben. Ohne sich damit für schärfere Gesetze aussprechen zu wollen, soll doch darauf hingewiesen werden, welcher sinnlose Aktionismus hier an den Tag gelegt wird. Die Massenmedien sprangen auf den Zug auf und versuchten mit Schlagzeilen wie „Mord im Kinderzimmer“ Auflage und Quote zu machen. Sogar renommierte Magazine wie „Frontal 21“ schreckten vor undifferenzierter Berichterstattung nicht zurück und untergruben so ihre Glaubwürdigkeit.

Dabei machte der Amokläufer aus Emsdetten allen, die es wollten, das einmalige Angebot, in seine Gedankenwelt einzusteigen und seine Motive nachzuvollziehen. Unter dem Titel „Ich will R.A.C.H.E“ veröffentlichte das Onlinemagazin „Telepolis“ seinen Abschiedsbrief. Es wurde versucht, diesen Brief von der Öffentlichkeit fernzuhalten, indem z.B. die Webseite des Amokläufers auf Bitte der Polizei hin gesperrt wurde. Die Versionen auf Bild.de und RTL Online fielen der Zensur zum Opfer. Die persönlichen Motive und gesellschaftskritischen Passagen des Amokläufers wurden gestrichen und der Öffentlichkeit einzig die des Hasses präsentiert, der Täter so zum Monster stilisiert.

Sebastian B. prangert Konsumwahn und die Bigotterie unseres Staates an. Er erklärt sich nicht einverstanden mit der Art des Zusammenlebens in Deutschland, dem Schwimmen mit der Masse, um nicht mit Hass und Ausgrenzung konfrontiert zu werden. Und er beschreibt das Leben ohne Perspektive, für das er sogar einen eigenen Begriff entwickelt hat: „S.A.A.R.T. – Schule. Ausbildung. Arbeit. Rente. Tod.“ Er erklärt, dieses Spiel nicht mitspielen zu wollen und freiwillig aus dem Leben zu scheiden, um das nicht erleben zu müssen. Vorher aber wolle er es denen heimzahlen, die ihm das Leben zur Hölle machten: den Mitschülern, die ihn auf Grund seiner Andersartigkeit gemobbt und den Lehrern, die ihn gezwungen hätten, in die Schule zu gehen – um ihn dort mit Stoff zu quälen, der ihn nicht interessiert habe. Er wolle seinen Teil zur „Revolution der Ausgestoßenen“ beitragen.

Sebastian ist nicht allein. Viele Jugendliche in Deutschland haben eine ähnliche Vorstellung vom Leben oder sehen sich mit einer düsteren Hartz-IV-Realität konfrontiert. Er und die anderen Mörder haben ihre Wut und ihr Leid an den Ort getragen, der in ihren Augen die Ursache für ihr Leiden darstellte: die Schule. Kaum einer will darüber reden, dass es vielen Schülern schlecht geht und ihnen keine Perspektiven geboten werden können. Die Volksparteien und großen Medien bleiben ihnen eine Debatte über eine neue Bildungspolitik und den gegenseitigen Umgang jedenfalls schuldig.
„Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt – eine Welt, die mich nicht sein lassen will, wie ich bin. Ihr habt euch über mich lustig gemacht, dasselbe habe ich nun mit euch getan. Ich hatte nur einen ganz anderen Humor!“, schreibt Sebastian B.

Der ungekürzte Abschiedsbrief von Sebastian B., dem Amokläufer von Emsdetten:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24032/1.html


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Kommentare

Eine Antwort zu „Alle Jahre wieder …“

  1. Avatar von Sandra.B.
    Sandra.B.

    Wenn ich sagen würde, dass ich diesem Schreibstil nicht verfallen wäre, würde ich lügen. Das Thema passt zum Schreiber, keine Frage, ich wollte hiermit nur sagen, gut geschrieben, zum Thema selbst, na ja jeder hat andere Ansichten zu den Dingen, ich sehe einiges anderes, aber das steht jetzt hier nicht zur Debatte.

    lg

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