Heimat nehmen Welt auf

Foto: Film Kino Text
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Zehn plus vier Filme zu Migration und Flucht: die Langfassung mit einem Blick über den europäischen Tellerrand hinaus.

von Caro und David

In seinem bekanntesten Werk, dem Essayband Jenseits von Schuld und Sühne von 1977, schreibt Jean Améry: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.” Wer seinen Herkunftsort verlässt, bringt den Begriff Heimat und die Frage nach ihr erst hervor und steht immer seltsam dazwischen. So sind diese zehn Filme über Migration – legale und „illegale”, die Ankunft und den Versuch eines Alltags – geprägt  von der Verworrenheit des Zwischenraums, in dem sich Möglichkeiten und Abgründe auftun.

America, America (The Anatolian Smile)
Spielfilm, Elia Kazan, 1963, USA, 174 Min.
„My name is Elia Kazan. I’m a Turk by birth, a Greek by blood and an American because my uncle made a journey.“ Mit diesen Worten beginnt der vielleicht kontroverseste Hollywood-Regisseur seinen persönlichsten Film: ein Epos über den mühevollen Weg seines Onkels von einem anatolischen Dorf bis nach New York.

Angst essen Seele auf
Spielfilm, Rainer Werner Fassbinder, 1974, D, 89 Min.
Das sozialkritische Beziehungsdrama um die Putzfrau Emmi und den wesentlich jüngeren Marokkaner Ali lässt die Gastarbeiter-Problematik der Nachkriegszeit in eine universale Parabel menschlicher Entfremdung in der Zweierbeziehung sowie gegenüber der Gesellschaft münden. Fassbinders Erfolgsfilm begründete mit schnellen Schnitten und erzählerischer Dichte eine Annäherung des deutschen Autorenkinos an ein von Hollywood geprägtes Publikum. Er ist damit als Wegweiser für eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit Migration im deutschen Kino zu betrachten.

Die Geduldeten
Doku, Natascha Breuers/Ralf Jesse, 2008, D, 98 Min.
Zwischen 5.000 und 10.000 sogenannte unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge soll es in Deutschland geben. Von ihren Eltern einer vermeintlich besseren Zukunft überlassen, gelten sie in Deutschland als vorübergehend “geduldet” und können ab ihrem 16. Lebensjahr jederzeit abgeschoben werden. Über zwei Jahre hinweg begleitet die Dokumentation fünf solcher Kinder. Über ihren Verbleib entscheidet am Ende nicht primär der Grad ihrer Integration, sondern die Glaubwürdigkeit des ursprünglichen Grundes zur Flucht, über die sie nicht bestimmt haben.

Ein Augenblick Freiheit
Spielfilm, Arash T. Riahi, 2008, AU/F/TR, 110 Min.
Wahrheit und Lüge, Ausgelassenheit und Verzweiflung, Rohheit und Poesie bündeln sich in Riahis grandiosem Spielfilmdebüt in einem zwielichtigen Hotel der türkischen Hauptstad Ankara. Dort kreuzen sich die Lebenswege dreier iranischer Flüchtlingsgruppen, die auf den positiven Asylbescheid eines EU-Landes hoffen. Sowohl die urkomisch lebensbejahenden, als auch die zutiefst erschütternden Momente des Films, in schneller Szenenfolge erzählt, sind Konsequenzen des unumwundenen Bekenntnisses der Protagonisten zur Freiheit.

Hochburg der Sünden
Doku, Thomas Lauterbach, 2008, D, 79 Min.
Das Ensemble der Medea-Inszenierung des skandalträchtigen Theaterregisseurs Volker Lösch besteht aus 17 türkisch-stämmigen, in Deutschland lebenden Frauen. Die Proben zum Stück fordern 17 Positionen zur Integration und 17 Identitäten zutage, die sich unter dem Anhang „mit Migrationshintergrund” verbergen.

Illégal
Spielfilm, Olivier Masset-Despasse, 2010, F/B/L, 95 Min.
Dass die von der Ausweisung bedrohte Tania sich zu Beginn des Filmes die Finger verbrennt um sich ihrer Fingerabdrücke zu entledigen, mag den ein oder anderen an Schocktechniken des Mainstream-Kinos erinnern. Tatsächlich schockierend an diesem schwer verdaulichen Film über die Praxis der Abschiebung und Abschiebehaft ist jedoch, dass er jene Möglichkeiten des Inhumanen, die sich aus der totalen Abschottung einer Parallelwelt innerhalb einer demokratisch freiheitlichen Gesellschaft ergeben könn(t)en, radikal aufzeigt.

In This World
Spielfilm, Michael Winterbottom, 2002, GB, 85 Min.
Auf ihrer viermonatigen Odyssee mit dem Ziel London werden die jungen Afghanen Enajat und Jamal von ihren Schleusern ausgenutzt und lebensgefährlichen Transportbedingungen ausgesetzt. Durch Laiendarsteller, Handkameras und Originalschauplätze gewinnt Winterbottoms Erzählung dokumentarische Züge. International mehrfach ausgezeichnet, wurde In This World jedoch auch für die weitgehende Auslassung der Beweggründe seiner Protagonisten kritisiert. Oder spielt diese Frage hier keine Rolle? Ist ihr Leid womöglich über jeden Zweifel erhaben?

Le Havre
Spielfilm, Aki Kaurismäki, 2011, Fin/F/D, 93 Min.
Das höchst stilisierte, melancholische Setting und der Charakter des Außenseiters zählen zu Kaurismäkis Vorlieben. Die Ankunft illegaler Flüchtlinge in der französischen Hafenprovinz bietet ihm den Rahmen, in dem er seine wunderbar verschrobenen Charaktere entwickeln kann. Zurückgezogene Querköpfe wie der Schuhputzer und verkappte Literat Marcel Marx sind es, die leichtfüßig, naiv und ohne Rücksicht auf „political correctness“ dem jungen, orientierungslosen Afrikaner Idrissa ein Stück des Weges in ein neues Leben ebnen.

Foto: Pandora Film
Foto: Pandora Film

Les Arrivants
Doku, Claudine Bories/Patrice Chagnard, 2009, F, 110 Min.
Ein nahender Nervenzusammenbruch scheint sich in Carolines Gesicht abzuzeichnen, vor allem in den Raucherpausen zwischen den Beratungen. Sie arbeitet in einem Pariser Büro, das  Asylbewerbern durch den Irrgarten der Bürokratie helfen will. Obgleich an Carolines Schreibtisch keine Entscheidungen getroffen werden, landen hier tagtäglich Wut, Verzweiflung und ab und an Glückstränen.

Nuovomondo (The Golden Door)
Spielfilm, Emanuele Crialese, 2006, I/F, 118 Min.
Die Familie Mancuso verlässt ihre sizilianische Heimat, um in das Land zu reisen, wo mannsgroße Äpfel wachsen, Menschen in Milch baden und Geld vom Himmel fällt. Doch die Reise ist beschwerlich, die US-Einwanderungsbehörden unerbittlich, schikanös und bürokratisch, die Quarantäne ohne Ende. Vor dem Hintergrund der US-Einwanderungswelle von fünf Millionen Italienern zwischen den 1870er Jahren und dem Ersten Weltkrieg zeigt der Film in teils dokumentar-realistischen, teils stilisiert-poetischen Bildern, wie die Migranten ihre Vorstellungswelt, Mentalitäten und Träume angesichts der Wirklichkeit anpassen mussten.

Rich Brother
Doku, Insa Onken, 2009, D, 98 Min.
In den Augen seiner Familie hat Ben es geschafft: Der Kameruner ist schon seit fünf Jahren in Deutschland. Dass er dort auf seinen Asylentscheid wartet, ohne Arbeitserlaubnis, weiß zu Hause niemand. Um den Erwartungen, mit denen er sich konfrontiert sieht, trotzdem gerecht zu werden, versucht Ben sich buchstäblich nach oben zu boxen. Es entsteht ein wunderbares Spiel zwischen der Kamera und dem Protagonisten auf seinem Vormarsch in der Boxwelt, das, absurd wie es ist, die Grenzen des Dokumentarischen zu sprengen scheint.

The Immigrant
Spielfilm, Charles Chaplin, 1917, USA, 25 Min.
Zusammen mit anderen Immigranten aus Europa erreicht der Tramp die USA. Chaplin zeigt mit viel Humor und komödiantischem Geschick die Tücken der großen Reise: das Sich-Verlieben in eine Co-Passagierin, aber auch die Streitigkeiten und die latente Gewalt zwischen den Reisenden, vor allem aber das übelkeitserregende permanente Schaukeln des Gefährts.

Welcome
Spielfilm, Philippe Lioret, 2009, F, 110 Min.
Ein Film über die wahnwitzige Idee eines irakisch-kurdischen, „illegalen“ Migranten, der London von Calais aus über den Ärmelkanal erreichen will – schwimmend. Vor allem aus Liebe nehmen Bilal und der ansässige Schwimmlehrer einen Kampf gegen Windmühlen auf –  die Behörden einerseits, die Grenzen des körperlichen Vermögens andererseits.

Foto: Arsenal
Foto: Arsenal

Wut
Spielfilm (TV),  Züli Aladağ, 2006, D, 90 Min.
„Sagen wir, Sie hatten die Schuhe zum Putzen”, schlägt der vermeintlich tolerante Simon Laub dem deutsch-türkischen Teenager Can vor, als dieser die Schuhe zurückbringt, die er Laubs Sohn zuvor gestohlen hatte. Damit gibt der Familienvater die Initialzündung zur Eskalation eines Machtkampfes zwischen ihm und dem halbstarken Can. Dass der Film eine TV-Produktion ist, liest man seiner betont realistischen, oft kargen Ästhetik zuweilen deutlich ab. Dass er jedoch vom WDR von der Hauptsendezeit kurzfristig ins Spätprogramm verschoben wurde, spiegelt seine inhaltliche Brisanz wider und löste freilich einen kleinen Medienskandal aus.

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