Kolumne: „Winter wakeneth all my care …“ – Jahreszeitliche Betrachtungen

(Foto: flickr-User Kieran Mc)
(Foto: flickr-User Kieran Mc)

Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena, wirft diesmal einen Blick auf die sprachliche Vielfalt des britischen Wetters.

Wenn man auf den britischen Inseln wohnt, ist es von Vorteil, Wetter unabhängig von irgendwelchen jahreszeitlichenVorlieben allgemein zu mögen – denn davon bekommt man ganzjährlich viel, oft und in den unterschiedlichsten Formen. Während dem Besucher aus Kontinentaleuropa vor allem die feucht-nasse Komponente des britischen Wetters auffällt, sehen es die Briten selbst differenzierter. So fühlen sich die Bewohner Südenglands als durch den warmen Golfstrom verwöhnt, während sich die Schotten als die echten Hartwetterprofis betrachten. Eine Konsequenz dieser Einstellung ist, dass wärmedämmende Doppelverglasung und verwandte zivilisatorische Errungenschaften zwar vom Hörensagen her bekannt, in der Realität jedoch nur vereinzelt anzutreffen sind. Im Süden braucht man so etwas nicht (man hat ja den „wärmenden“ Golfstrom) und im Norden werden solche Dinge als Anzeichen einer gefährlichen Verweichlichung betrachtet. Ähnlich verhält es sich mit der Einstellung zu jahreszeitlich angepasster Kleidung. Grundsätzlich gilt, dass sich die meisten Briten eher nach dem Datum in ihrem Kalender als nach den realen Witterungsbedingungen richten.
Die Liebe der Briten zu ihrem Wetter und den Jahreszeiten spiegelt sich auch in der englischen Literatur wider. So beginnt eines der bekanntesten Werke der mittelenglischen Literatur (Geoffrey Chaucers Canterbury Tales) mit den unsterblichen Zeilen: „Whan that Aprill with his shoures soote …“ oder zu Deutsch: „Wenn der April mit seinen süßen Schauern …“ Welch andere Kultur würde die Aprilschauer als ‚süß‘ apostrophieren? Und auch in der mittelenglischen Lyrik sind die ‚jahreszeitlichen Eingänge‘ weit verbreitet. Ein anonymer Dichter des 14. Jahrhunderts leitet seine melancholischen Zeilen über die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens ein mit „Winter wakeneth all my care“ – „der Winter weckt all meinen Kummer“. Dem hat ein anderer anonymer Dichter ein fröhlich-keckes „Sumer is icumen in, Lhude sing, cuccu!“ (Der Frühling ist da, sing laut ‚Kuckuck‘!) entgegen gesetzt. Sprachwissenschaftlich interessant ist die Tatsache, dass es sich bei der mit „sumer“ bezeichneten Jahreszeit nicht um den Sommer, sondern um den Frühling handelt – der weitere Verlauf des Gedichts lässt daran keine Zweifel. Warum, wird man zu Recht fragen, verwendet der Dichter dann nicht einen mittelenglischen Begriff für ‚Frühling‘ – z.B. ‚lenten‘ (vgl. dt. Lenz) oder ‚vere‘? Untersucht man die Verbreitung der Bezeichnungen für die vier Jahreszeiten in der Geschichte des Englischen, so kommt man zur überraschenden Schlussfolgerung, dass – wie in den meisten germanischen Sprachen – die Bezeichnungen für Sommer und Winter stabil, diejenigen für Frühling und Herbst jedoch nicht durchgängig im Wortschatz vertreten sind und dann auch größere Variationen aufweisen. Etwa im (älteren) Englisch ‚autumn‘, – ‚fall‘ – ‚harvest‘ für den Herbst. Dies hat seine Wurzeln im Umstand, dass die germanischen Stämme lange Zeit in Klimaregionen siedelten, in denen vor allem der Unterschied zwischen den beiden ‚Hauptjahreszeiten‘ (Sommer = Sonne, bzw. Winter = keine Sonne) ins Auge fällt und die ‚Zwischenjahreszeiten‘ nur eine Nebenrolle spielen. So bestand offensichtlich nicht immer ein ‚lexikalisches Bedürfnis‘ nach einer dem Sommer vorangestellten und von ihm gesonderten Jahreszeit. Natürlich kannten auch die Engländer des 13. Jahrhunderts ‚Frühlingsgefühle‘, wie das mittelenglische Gedicht zeigt. Diese wurden dann eben als ‚Sommergefühle‘ bezeichnet. Aber bis man wieder mit Herzensbrunst „Sumer is icumen in, Lhude sing, cuccu!“ singen kann und uns der April mit seinen ‚süßen Schauern‘ verwöhnt, müssen wir noch durch den Winter …

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