„Anne Frank hat sich aus dem Nichts eine ganze Welt geschaffen“

Foto: Scott-Hendryk Dillan

Mirjam Pressler, Kinderbuchautorin und Übersetzerin, spricht mit unique über das Tagebuch der Anne Frank als Pubertätsbuch und Unterrichtsgegenstand.

unique: Frau Pressler, als bekannte Kinderbuchautorin erreichen Sie viele junge Leser und thematisieren dabei oft ernste Themen, darunter auch den Holocaust. Was kann man jungen Menschen diesbezüglich zumuten?
Pressler: Das Alter spielt da natürlich eine große Rolle. Aber ich finde, ab 12 oder 13 Jahren geht es nicht mehr ums „Zumuten“. Dinge, die man früher Kindern und Jugendlichen im wirklichen Leben zugemutet hat, können die Kinder der heutigen Generation mit satten Bäuchen und in warmen Zimmern sehr wohl auch lesen.

Einige Ihrer Bücher sind auch Schullektüre. Können solche Bücher, die in der Schule behandelt werden, einen besonderen Einfluss haben und erwächst daraus auch eine spezielle Verantwortung?
Potenziell können sie einen großen Einfluss haben; das hängt allerdings davon ab, was der Lehrer einfordert oder wie er es darstellt. Denn wenn er das Buch gefühllos darstellt, kann er auch keine Gefühle wecken, dann kriegt er vom Schüler seinen Interpretationsaufsatz und fertig. Aber gerade Anne Frank hat immer eine große Rolle gespielt – und zwar nicht deswegen, weil sie ein jüdisches Mädchen ist, sondern weil es ein Pubertätsbuch ist. Wenn ein Erwachsener über Pubertät schreibt – die eigene oder eine fiktive – dann ist es immer gefiltert durch das, was diese Person später gehört und gelesen hat. Anne Frank hingegen hatte keine Zeit, im Nachgang irgendetwas zu ändern. So eine ungekünstelte, offene Art der Pubertätsbeschreibung kennen wir sonst nicht – und ich glaube, das merken die Jugendlichen auch heute noch. Denn im Grunde passiert in dem Tagebuch ja eigentlich nichts. Anne hat es geschafft, sich aus dem Nichts eine ganze Welt zu schaffen, und das hat etwas mit ihrer Schreibwut zu tun, mit der Angewiesenheit auf sich selbst – und damit, dass sie unbedingt eine Liebesgeschichte erleben wollte. Es gab ja nur einen Jungen dort, also war es keine wirkliche Liebesgeschichte. Aber in Annes Kopf war es eine.
Was ich allerdings bei der schulischen Auseinandersetzung mit Anne Frank sehr fraglich finde ist, dass es aufhört mit dem Satz „Hier endet Annes Tagebuch“. Dann wird gegenüber den Schülern in der Regel noch erwähnt, dass Anne umgekommen ist, aber nicht mehr wirklich. Die Zeit, die sie danach noch gelebt hat, wird nicht mehr wirklich thematisiert. Das finde ich ein bisschen schade. Dann haben die Lehrer und die Schüler das Gefühl, sie haben etwas über das Dritte Reich gemacht –aber im Grunde ist das nicht so, denn mit dem Ende des Tagebuchs fängt für Anne das Dritte Reich eigentlich erst an.

Vor einigen Monaten wurde eine Graphic-Novel-Adaption von Anne Franks Tagebuch veröffentlicht im Auftrag des Anne Frank Fonds Basel, dem Rechte-Inhaber des Tagebuchs. Was halten Sie davon?
Die Umsetzung ist sehr, sehr gut. Ein Graphic Diary, wie es heißt. Eine wirklich eigene Interpretation, künstlerisch wunderbar gemacht, dem Buch nicht übergestülpt. Und es ist keineswegs nur für Jugendliche, sondern für jeden, der Bücher und Literatur liebt. Natürlich ist es kein Ersatz für das Tagebuch selbst – ein Zusatz vielmehr. Wer sich wirklich für Annes Tagebuch interessiert, der wird Annes Text lesen.

Sie sind eine große Verfechterin klassischer Kinderbücher, nennen etwa Twains Huckleberry Finn als Ihr Lieblingsbuch. Wie stehen Sie zu der Frage, historisch belastete Begriffe bei Neuauflagen zu verändern?
Das finde ich, offen gesagt, bescheuert. Man liest ein Buch und weiß, aus welcher Zeit es kommt. Dann muss man auch akzeptieren, dass damals das Wort ‚Neger’ benutzt wurde, was ja vor allem bei Huckleberry Finn der Fall ist. Bei Astrid Lindgren sollte aus dem Negerkönig der Südsee-König gemacht werden… ich halte davon nichts. Eher würde ich ein kleines Nachwort schreiben, wie das damals war und aus welchen Gründen man das heute nicht mehr sagt.

Frau Pressler, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Frank.


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